Zum Tatort: Murot und das Prinzip Hoffnung

In „Murot und das Prinzip Hoffnung“ geht es um den Mord an einem Philosophieprofessor und um seine Nachkommen, die dringend therapiebedürftig sind. Hintergründe zu dem schweren Stoff, der Kommissar Murot (Ulrich Tukur) in seinem neuen Fall so ins Grübeln bringt.

Eine Kritikvon Iris Alanyali

Diese Kritik stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

Was ist die Frankfurter Schule?

Jochen Muthesius, der Tote, ist der ehemalige Philosophieprofessor von Kommissar Murot. Er wird von Murot als Star unter den Schülern der Frankfurter Schule beschrieben.

Mit der Frankfurter Schule werden eine kapitalismuskritische Gesellschaftstheorie, die die 68er-Generation stark prägte, und ihre Vordenker bezeichnet. Dabei handelt es sich nicht nur um Philosophen, sondern um eine Gruppe Wissenschaftler, die am ursprünglich marxistischen Institut für Sozialforschung (IfS) der Wolfgang Goethe-Universität angesiedelt waren. Zu den berühmtesten Mitgliedern gehörten der jüdische Philosoph Theodor Adorno (1903-1969) und IfS-Direktor Max Horkheimer (1895-1973), die nach Amerika emigrierten, nachdem das IfS 1933 von den Nazis geschlossen wurde.

Aus ihrem Gedankenaustausch im kalifornischen Exil entstand die „Dialektik der Aufklärung“, die nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt zum Hauptwerk der Frankfurter Schule wurde. Die Essaysammlung ist eine Auseinandersetzung mit den Widersprüchen einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich „einer neuen Art der Barbarei verschreibt“, obwohl – oder gerade weil – sie sich streng den Regeln der Vernunft unterworfen habe. Es ist eine Reaktion Horkheimers und Adornos nicht nur auf die Barbarei der Nazizeit, sondern auch die Auswüchse einer Massenkonsumgesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen unterdrücke.

Wer war Ernst Bloch?

Das Buch „Das Prinzip Hoffnung“, das im „Tatort“ neben dem toten Professor liegt, ist das Hauptwerk des jüdischen deutschen Philosophen Ernst Bloch (1885–1977). Als überzeugter Pazifist verbrachte Bloch den Ersten Weltkrieg im Schweizer Exil. Von den Nazis ausgebürgert, emigrierte er nach mehreren Stationen in Europa in die USA, wo er „Dreams of a Better Life“ (Träume von einem besseren Leben) verfasste, der ursprüngliche Titel von „Das Prinzip Hoffnung“. Bloch kritisiert damit in poetischem Stil den üblichen, in die Vergangenheit gerichteten Forschungsdrang des Menschen und fordert ausdrücklich zum utopischen Denken auf – das etwas „doch utopisch“ sei, dürfe kein Schimpfwort mehr sein, so Bloch einmal in einem Interview.

Seine Philosophie verbindet mit Utopie vielmehr Offenheit, Möglichkeiten und Freiheit.

Die Hoffnung – auf ein besseres Leben – wird als Prinzip menschlichen Zusammenseins begriffen, mit dem Tagtraum als einer Keimzelle, die dem Menschen seine noch unbewussten Wünsche für die Zukunft offenbart.

Der neue "Tatort" liefert ein Krimi-Urmotiv – und profitiert von einem Charakter

Wie viele Philosophen der Nachkriegszeit sah Bloch im Sozialismus die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft (seine Verteidigung Stalins brachte ihm Kritik ein). Er siedelte nach Kriegsende in die DDR über und unterrichtete an der Leipziger Universität. Nachdem die SED seinen Vorlesungen jedoch antimarxistische und revisionistische Tendenzen vorwarf und ihm das Unterrichten verbot, lehrte er ab 1961 in Tübingen, wo er zu einem der Helden der Studentenbewegung wurde.

Was ist die systemische Therapie?

Die Tochter des toten Professors ist Therapeutin, die mit sogenannten systemischen Aufstellungen arbeitet. Die auf die Systemtheorie gründende Methode der Psychotherapie betrachtet den Menschen nicht nur als Individuum, sondern als Teil eines Systems, also zugleich immer auch als biologisches und als soziales Wesen, so die deutsche Gesellschaft für systemische Therapie (DGSF). Sie „rückt deshalb die dynamische Wechselwirkung zwischen den biologischen und psychischen Eigenschaften einerseits und den sozialen Bedingungen des Lebens andererseits ins Zentrum der Betrachtung“, um psychische Störungen verstehen zu können: „Individuelle Symptome werden als Ergebnis von krankheitserzeugenden und -aufrechterhaltenden Beziehungsmustern im Kontext der wichtigen Bezugspersonen gesehen.“

Wie funktionieren die Figuren?

Entsprechend wird das Individuum in der systemischen Familientherapie als familiengeprägtes Wesen verstanden, „dessen Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten durch die Geschichte der vorhergehenden Generationen, durch überkommene Regeln, Muster und Loyalitäten stark mitbestimmt werden“, so die DGSF. Techniken wie das Stellen von Familienskulpturen „sollen dem Einzelnen neue Bewertungsmöglichkeiten der Familiengeschichte und damit zusätzliche eigene Verhaltensmöglichkeiten eröffnen“.

Familienskulpturen können sowohl tatsächliche Mitglieder der Familie sein, die von Beteiligten (oder Therapeuten) mit bestimmter Gestik, Mimik, Haltung und in bestimmten Abständen voneinander aufgestellt werden, als auch Holzfiguren, die stellvertretend ein Betrachten aus der Vogelperspektive ermöglichen. Der „Tatort“ spielt mit beiden Versionen, indem er sowohl Skulpturen aus Holz verwendet als auch die lebenden Darsteller wie Figuren auf einem Brett (in der Familientherapie auch Systembrett genannt) darstellt.

Die Holzfiguren, die im Film verwendet werden, wurden im Hessischen Rundfunk hergestellt und lehnen sich an echte Figuren an, die in systemischen Aufstellungen genutzt werden.

Mehr Infos zum „Tatort“ finden Sie hier

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