Electric Callboy: Sexismus ist "ein großes Problem der Gesellschaft"

Electric Callboy: Sexismus ist "ein großes Problem der Gesellschaft"

Neues Album "Tekkno"

Wer Songs von Electric Callboy hört, kann die Füße nicht stillhalten. Gerade auch die partytauglichen Titel auf dem neuen Album „Tekkno“, das am 16. September erscheint, animieren zum Tanzen. Feiern die Künstler auch selbst zu ihren Songs? „In der Regel nein“, antwortet Sänger und Keyboarder Kevin Ratajczak im Interview mit spot on news. Das trifft zumindest auf öffentliche Partys zu, „da find ich’s immer total peinlich“, sagt er. Auch Dialoge wie „Mein Sohn macht Musik“ – „Ja, mach doch mal was an“ seien ihm „ultrapeinlich, auch bei Freunden“. „Da will ich am liebsten immer im Erdboden versinken“, fügt Ratajczak hinzu.

Es gebe nur „eine Zeit, in der wir Party zu unserer Musik machen, nämlich dann, wenn wir sie schreiben“, erklärt der Sänger. „Je weiter der Songwriting-Prozess voranschreitet, desto weniger kann man die eigenen Songs noch hören. Dann mag man die eigene Musik quasi eine Weile nicht mehr, bis man sie dann live spielt, dann entflammt diese Liebe wieder von Neuem.“

Electric Callboy leben vom Genremix – dabei kombinieren sie in einem ihrer neuesten Songs sogar Metal mit Schlager. „Das Mixen von Genres lieben wir und gerade zu ‚Hurrikan‘ ist es sehr extrem ausgefallen“, erzählt Ratajczak. Die Verbindung unterschiedlichster Musikarten bereitete der Band anfangs „sehr große Probleme, weil wir in keiner Szene so richtig zu Hause waren“, sagt der Musiker. Doch „mit wachsendem Erfolg der Band ist die Akzeptanz gestiegen – auch dafür, dass wir einfach machen, was wir wollen“. Weiter betont er: „Wie man so schön sagt: Erfolg gibt einem Recht.“

Die Idee eines „Schlagercores“ spukte schon länger in den Köpfen der Band herum. „Wir hatten das Instrumental zu dem Schlager-Part schon ganz lange rumfliegen. Irgendwann haben wir dann gesagt, wir setzen das jetzt mal um, aber machen da etwas Besonderes daraus. Etwas, das schockt und bei dem die Leute sagen: ‚Ach du Heiliger, was ist denn da schon wieder passiert?'“ Der Song und das zugehörige Musikvideo schocken allemal – Zombies und Ballermann-Star Mia Julia (35) inklusive. „Wie es immer so ist, ist es erst ein kleiner Witz und wir setzen den dann viel zu professionell um“, sagt Ratajczak. Wenn die Band „Hurrikan“ live spielt, tanzt das Publikum dazu Discofox, erzählt er. „Wir nennen es Deathcofox – selbsterklärend, weil die Leute erst mit Discofox anfangen und hinterher dann natürlich zu der harten Musik abgehen. Wunderbar, einfach superschön anzusehen.“

Electric Callboy haben schon einige Höhen und Tiefen erlebt. So musste sich die Gruppe auch schon mit Kritik auseinandersetzen, sowohl an einigen Texten in alten Songs als auch am vergangenen Bandnamen. Im März 2022 änderte die Band ihren Namen, nur das „Callboy“ ist vom vorherigen Titel noch geblieben. „Kritik ist immer gut, wenn sie denn konstruktiv ist und man sie verarbeiten kann“, sagt Ratajczak. Kritik sei „wichtig, weil sie bei der Selbstreflexion hilft und auch dabei, Grenzen abzustecken“.

Mit zunehmender Popularität der Band habe auch die Kritik am Bandnamen zugenommen, besonders bei einem Festival in Großbritannien: „Da haben sich kanadische Bands über den Bandnamen beschwert – wie es denn sein kann, dass da so eine Band auftritt. Das war das erste Mal, dass man uns, ohne dass man uns kannte, vorverurteilt hat aufgrund unseres Namens“, erzählt Ratajczak. Ab dann begann die Band zu recherchieren und sich mit Experten zu unterhalten. „Hauptargument ist, dass die Inuit sich Inuit nennen und eben nicht das andere Wort. Das Problem ist, dass das andere Wort den indigenen Völkern aus dieser Region von den Kolonialmächten gegeben wurde. Der Hintergrund ist: Wenn man das E-Wort hört, stellt man sich keinen Chef einer Bank oder den eigenen Chef vor, sondern irgendeinen primitiven Menschen. Das wollen wir nicht und das wollen auch vor allem diese Menschen nicht“, betont er. Damit war die Entscheidung gefallen: Ein neuer Bandname musste her.

„Nachdem wir uns mit unserem Bandnamen mehr und mehr auseinandergesetzt haben, haben wir das zum Anlass genommen, uns auch generell mal zu durchleuchten und selbstkritisch an manche Dinge ranzugehen. Da gehörten auch unterschiedliche Songtexte von uns dazu, die nicht mehr ganz verträglich sind“, erzählt Ratajczak.

Eine ähnliche Debatte ist aktuell um den Song „Layla“ von DJ Robin & Schürze entbrannt, dessen Text als frauenfeindlich kritisiert wird. Der Titel wurde zum offiziellen Sommerhit 2022 gekürt und stand neun Wochen lang an der Spitze der Charts. In der Diskussion wird laut Ratajczak „der Hebel viel zu weit oben angesetzt“. „Wir haben in unserer Musiklandschaft so viele Künstler, die viel derber sind“, erklärt er. „Gerade Deutschrap wird rauf und runter gespielt, auf jeglichen Radiostationen. Jeder hört sich’s an, die Kids hören sich’s an, keiner schert sich was drum.“ Er wolle nicht sagen, dass bei „Layla“ „alles koscher ist, aber ich bin immer ein Fan von Fairness“.

„Fairness wäre, wenn alle Songs der deutschen Musiklandschaft nach dem gleichen Maßstab bewertet werden“, betont Ratajczak. „Und das wird es in diesem Falle nicht. Da wird ein Song stigmatisiert und dann wird da drauf gekloppt.“ Davon abgesehen glaube Ratajczak nicht, dass der Song „so erfolgreich geworden wäre ohne diese Medienpräsenz, auch durch die negative Presse“.

Weiter erklärt er: „Sexismus ist eines der großen Probleme unserer Gesellschaft, da muss man einfach hinschauen, da muss man reden, da muss man diskutieren. Ich halte nicht viel von Verboten, ich finde Aufklärungsarbeit immer besser und wir sind das beste Beispiel dafür.“

Was für Kevin Ratajczak und Electric Callboy klar ist: „Wir glauben fest daran, dass es für jeden Künstler gewisse rote Linien geben muss, die er nicht überschreitet und die auch nicht durch künstlerische Freiheit zu entschuldigen sind. Nämlich da, wo kategorisch Menschen diskriminiert und ausgeschlossen werden. Das mögen wir gar nicht, denn gerade mit unserer Musik lieben wir es, Menschen vor der Bühne zusammenzubringen. Die Vielfalt, die wir mittlerweile auf den Shows beobachten können, ist eine der tollsten Nebenerscheinungen unserer Musik.“

Es gebe aber auch Momente, in denen man sich mit seiner Kunst „in einem Graubereich bewegt“. „Da kommt es immer ganz stark auf den Kontext an, das macht es kompliziert“, erklärt der Sänger. „Wer ist Empfänger? Wer ist Sender? Ist dem Publikum klar, dass, wenn ich mich mal grenzwertig äußere, meine eigentliche Gesinnung eine ganz andere ist? Benutze ich das als stilistisches Mittel, wird das jedem bewusst? Das sicherzustellen liegt in der Verantwortung des Künstlers. Deshalb gibt’s dazu auch so viele unterschiedliche Meinungen und Auffassungen, was Kunst am Ende darf.“

Und Electric Callboy? Sie bauen in ihren Songtexten auf „die guten Zeiten“, wie Ratajczak erklärt. „Eine kleine Auszeit vom Alltag zu bieten, finden wir ganz toll“, sagt er. „Gerade während der Pandemie haben wir so viele Nachrichten bekommen, in denen Menschen uns berichten, dass es ihnen gut geht, wenn sie unsere Musik hören und unsere Videos im Internet sehen. Dass sie lachen und einfach mal die Seele baumeln lassen. Wenn man eine gute Zeit hat, alleine oder mit Freunden, fühlt es sich danach wieder leichter an, sich den Problemen des Alltags zu stellen. Das ist doch eine ganz tolle Sache, wenn man das bei Leuten mit seiner Musik auslöst.“

spot on news

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