Zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt: Hetzt mich nicht!

Provokative, intelligente Nestbeschmutzung und Kunst gegen den Strich: Friedrich Dürrenmatt wäre am heutigen Dienstag 100 Jahre alt geworden

Was für ein Skandal! Da ehrt die Schweiz 1990 den einst eingesperrten Schriftsteller und Dissidenten Václav Havel, inzwischen Präsident der Tschechoslowakei. Und was macht der gefeierte heimische Dramaturg Friedrich Dürrenmatt? Er begrüßt den Gast nicht etwa in einer der ältesten Demokratien, die stolz auf ihre Freiheit ist, sondern im „Gefängnis Schweiz“. Die Schweizer fühlten sich „frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität“, so Dürrenmatt.

Die Politelite regt sich auf, Dürrenmatt wird als Nestbeschmutzer gescholten. Nicht, dass der von Humor getriebene Autor daran verzweifelt wäre. Er liebte die Provokation vielmehr. Heute wäre Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden.

Der rote Faden in Dürrenmatts Werken

Dürrenmatts Rede sei eine Reaktion auf die Selbstzufriedenheit des siegreichen Westens gewesen, schreibt Ulrich Weber in seiner gerade bei Diogenes erschienenen Biografie. Des Westens, der die Auflösung der totalitären Staaten im Osten mit Genugtuung betrachtete und meinte, er brauche sich nicht mehr selbstkritisch mit dem eigenen politisch-wirtschaftliche System auseinanderzusetzen. Durch Dürrenmatts Werk ziehen sich als roter Faden Themen wie kollektive Schuld, Gerechtigkeit, Mitläufertum, Kollaboration und Verdrängung.

Schon als Schüler entscheidet sich Dürrenmatt, der stets Fritz genannt wurde, Künstler zu werden. Die ersten Jahre sind aber hart. In den 50er Jahren startet die Zeitschrift „Schweizer Beobachter“ der Vorläufer einer Crowdfunding-Aktion für ihn. Sie bringt Leser dazu, Dürrenmatt über drei Jahre monatlich fünf Franken zu zahlen, er liefert im Gegenzug Geschichten im Fortsetzungsformat, darunter das berühmte Stück „Der Richter und sein Henker“ (1952) über eine Wette zwischen einem Polizisten und einem Verbrecher.

Schuld und Gerechtigkeit als Thema werden darin wie in den anderen berühmten Werken deutlich, die in vielen Schulen noch heute zur Pflichtlektüre gehören: „Der Verdacht“ (1953) über einen nach dem Krieg praktizierenden Nazi-Arzt oder die Theaterstücke „Der Besuch der alten Dame“ (1956) über Rache und Gerechtigkeit in einem Dorf und „Die Physiker“ (1962) über die Verwerfungen des Kalten Kriegs.

Dürrenmatts weltweiter Einfluss

Die Theaterstücke werden Welterfolge, die in vielen Ländern immer noch zu den meist gespielten Stücken gehören. „Durch Dürrenmatt halten viele Chinesen die Schweizer für sehr klug und humorvoll“, sagte ein chinesischer Literaturprofessor 2015 in der Zeitschrift „Du“. Der senegalesische Regisseur Djibril Diop Mambéty hätte mit dem adaptierten und verfilmten Stoff unter dem Titel „Hyänen“ 1992 fast die Goldene Palme in Cannes gewonnen.

Dürrenmatt steht mit gut 40 Jahren schon im Zenit seiner Karriere. Die spätere Bilanz ist durchwachsen, neue Theaterstücke fallen bei Publikum oder Kritikern durch. Aber Dürrenmatt schafft weiter. Dazu gehören Erzählungen und Fragmente, die teils erst nach seinem Tod herauskommen. Im kommenden Frühjahr plant der Diogenes-Verlag einen neuen Band mit unveröffentlichten Fragmenten aus Dürrenmatts Feder.

Zeichnungen als Schlachtfelder

Dürrenmatt war auch ein begnadeter Zeichner und Maler. Bekannt sind mehr als 1700 Werke, die er nie verkaufte, sondern höchstens verschenkte. „Meine Zeichnungen sind nicht Nebenarbeiten zu meinen literarischen Werken, sondern die gezeichneten und gemalten Schlachtfelder, auf denen sich meine schriftstellerischen Kämpfe, Abenteuer, Experimente und Niederlagen abspielen“, erläuterte er. Viele sind im Museum Centre Dürrenmatt, seinem ehemaligen Wohnhaus bei Neuchâtel/Neuenburg in der französischsprachigen Schweiz, ausgestellt.

Dort lebte Dürrenmatt 38 Jahre bis zu seinem Tod. Dort wuchsen seine drei Kinder auf. Im Garten wurde seine Asche bestattet, an einem Baum ohne Grabstein, ebenso wie die Asche seiner ersten Frau Lotti, die 1983 starb, und die seiner zweiten Frau, der 2011 verstorbenen deutschen Regisseurin Charlotte Kerr.

Das Zentrum wurde gerade renoviert und soll im Januar mit mehreren Großausstellungen wieder starten. Dann ist bei Führungen erstmals auch das Dürrenmatts Arbeitszimmer zu sehen. Mit Papieren, Stiften und Tesafilm auf dem wuchtigen Schreibtisch sieht es so aus, als wäre der Autor eben erst aufgestanden.

Eine Toilette als Kapelle

Als Maler hat der Künstler sich auch an den eigenen Wänden verewigt: „Sixtinische Kapelle“ nannte er eine Gästetoilette, in der er jeden Zentimeter mit Figuren aus seinen Werken bemalt hat. Dort sind etwa Romulus und der Minotaurus zu sehen, ein kleiner Papst und viele Neugierige, die auf das stille Örtchen hinunterstarren.

von Christiane Oelrich/dpa

Lesen Sie auch

Kultur-Highlights 2020: Die AZ-Sterne des Jahres

Dürrenmatt war immer für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Aber er ging leer aus, so wie der andere große Schweizer Autor des 20. Jahrhunderts, der zehn Jahre ältere Max Frisch. Die beiden verband eine schwierige Freundschaft mit Konkurrenzgehabe, wie Biograf Weber schreibt. So seien sie am Tag der Preisverleihung immer erleichtert gewesen, dass nicht der andere gewonnen hatte, statt dass es sie bedrückt habe, selbst übergangen worden zu sein.

Dürrenmatt war Diabetiker und erlitt mit 48 Jahren den ersten Herzinfarkt. Er war sich sicher, nicht alt zu werden, was ihn von Essgelagen mit Freunden und weinseligen Abenden mit Schätzen aus seinem wohlbestückten Weinkeller nicht abhielt. Charlotte Kerr wollte den Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag mit Fritz entfliehen und auf Weltreise gehen. Große Lust habe Dürrenmatt nicht gehabt, berichteten Freunde laut Biografie. „Tüet mi nid gäng spränge“ sagte er – auf Hochdeutsch etwa: „Hetzt mich nicht die ganze Zeit.“ Kurz vor der Abreise starb er am 14. Dezember 1990 zu Hause.

Vier AZ-Redakteure erinnern sich an ihre Dürrenmatt-Erfahrungen:

Adrian Prechtel: Ich wurde von Dürrenmatt erst spät getroffen – aber dafür richtig: Sean Penn hatte Dürrenmatts Drehbuch „Es geschah am hellichten Tage“ neu verfilmt und war nach Cannes gekommen. Die Verlagerung des Schweizer Kindermörderfalls nach Nevada hat mich weggebeamt – mit unauslöschlichen Bildern wie einer Truthahnfarm mit Tausenden Tieren, als die Todesnachricht (von Jack Nicholson) den Eltern überbracht wird. Ich habe dann kürzlich, als mir „The Pledge“ zufällig wieder einfiel, die Originalversion mit Heinz Rühmann von 1958 gesehen – ebenfalls wunderbar. Aber Dürrenmatt fand Rühmann eine zu selbstgefällige, leichte Fehlbesetzung und schrieb statt des „verfälschten“ Drehbuchs noch den Kriminalroman dazu. Ihm ging es darum, einen Antikrimi zu schreiben, in der der Kommissar eben nicht erfolgreich ist. Und mit dem Wrack Jack Nicholson ist das Sean Penn – leider erst 10 Jahre nach Dürrenmatts Tod – unheimlich gut gelungen.

Christa Sigg: Geld regiert die Welt, das will man mit 13, 14 nicht unbedingt wahrhaben. Und bei Literatur kann man sich immer noch damit rausreden, dass alles erfunden ist. Oder im Fall von Friedrich Dürrenmatt satirisch überzogen. „Der Besuch der alten Dame“ hat mich aber tatsächlich umgetrieben. Natürlich war die Tragikomödie in der Schule amüsant zu lesen, Dürrenmatts lakonische Beschreibungen gefielen mir sogar gut. Aber wie sehr sich eine ganze Stadt von winkenden Milliarden einseifen lässt, war schon heftig. Wobei mich das Schicksal der Claire Zachanassian und ihrer ungewollten Schwangerschaft viel mehr beschäftigt hat. Der Satz „die hat heiraten müssen“, ging mir damals schon mächtig auf die Nerven, vor allem, wenn ihn auch noch Frauen ausgesprochen haben. Claire oder Kläri hatte nicht einmal diese „Option“ und verließ „entehrt“ – auch so eine Formulierung – eine Gemeinde achtbarer, scheinbar gläubiger Mitmenschen.

Michael Stadler: Während meines Studiums musste, nein, durfte ich auch Dürrenmatts „21 Punkte zu den Physikern“ lesen. In kurzen Sätzen stellt er da einige zentrale Pfeiler seiner Dramentheorie auf. Dazu gehört das berühmte Diktum, dass jede Geschichte erst zu Ende gedacht ist, „wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Mir erschien das damals als fatalistisch. Heute habe ich eher den Eindruck, dass Dürrenmatt nicht nur die gängige Dramaturgie vieler Serien vorweggenommen hat, sondern sich vor den bösen Zufällen des Lebens absicherte. Denn wer sich das „worst case scenario“ vorstellt, ist für alles gewappnet: Schlimmer kann es nicht werden. Und nahm 2020 nicht die schlimmstmögliche Wendung? Damit es heuer besser wird, auch dafür hat Dürrenmatt einen Tipp. Nämlich in Punkt 17: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Florian Koch: Die Schwierigkeit für unsere große Theatergruppe am Pasinger Max-Planck-Gymnasium war es stets geeignete Stücke zu finden. Den Hunger nach vielseitigen Rollen und seien es auch nur pointierte Kurzauftritte stillte Friedrich Dürrenmatt mit „Ein Engel kommt nach Babylon“. Ein eher unbekanntes Werk, das 1953 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und von uns Gymnasiasten 1999 in der umfunktionierten Turnhalle dargeboten wurde. Dürrenmatt beschreibt in der Vorgeschichte vom Turmbau zu Babel mal grotesk, mal dramatisch das Scheitern der Großmannssucht, des Strebens nach Leistungsmaximierung. In meiner Rolle als dümmlicher Polizist gehe ich plump gehorsam gegen jeden Widerständler vor, bis mich am Ende die Gefühle übermannen und ich – nicht ganz werktreu – anfange zu singen („Verdammt ich lieb dich“). Ein für mich unvergesslicher Auftritt. Dennoch bin ich froh, dass davon keine Tonaufnahmen mehr existieren.

Quelle: Lesen Sie Vollen Artikel