Yayoi Kusama: Prinzessin der Punkte

Punkte sind ihr Markenzeichen. Alles ist übersät damit: Kleider, Möbel, ganze Räume und natürlich die berühmten Kürbisse, die auf keiner großen Kunstmesse fehlen dürfen. Dazu ist Yayoi Kusamas Kunst in hohem Maße Selfie- und somit gleich noch Instagram-tauglich, auch wenn einem die psychedelische Unruhe, die die sogenannten „Polka Dots“ in ihrer dauernden Wiederholung verbreiten, durchaus zusetzen kann.

Für die Künstlerin sind die Punkte dagegen der Weg in die Unendlichkeit. Und vermutlich auch die Rettung.

Die Erde sei auch nur ein Punkt unter Millionen von Sternen im Kosmos, pflegt die 91-Jährige ihre Obsession zu erklären. Das mag aufs Erste poetisch klingen, für die längst zum Superstar avancierte Japanerin symbolisieren die unzähligen „Dots“ aber vor allem das Auslöschen der Identität. Und gerade in ihren verspiegelten Installationen verliert sich jedes ihrer typischen Objekte in der Endlosigkeit.

Kunst und Leben gehören untrennbar zusammen

In einem Meer von Punkten will sie versinken – so zeigt die Illustratorin Elisa Macellari die junge Kusama auf dem Titel ihrer gleichnamigen Graphic Novel. Doch dieses Meer besteht genauso aus wulstigen Noppen, und man realisiert schnell, dass damit Phalli gemeint sind.

Für Yayoi Kusama gehören Kunst und Leben untrennbar zusammen, tief sitzende Traumata befördern ihr Schaffen, und die kleine Dame mit den grellroten Haaren denkt bis heute nicht ans Aufhören. Zumal sie gut betreut wird. Die Künstlerin hat sich Mitte der 70er aus freien Stücken in eine psychiatrische Klinik in Shinjuku begeben, um dort bis ans Lebensende zu bleiben.

In den Jahren davor ist sie von 1958 an durch die wilde Kunstszene New Yorks gezogen – das schildert Macellari in eindrucksvollen Bildern. Und auch die Phalli haben 1962 unter dem Titel „Accumulation No. 1“ ihren ersten großen Auftritt. Ein Jahr später füllen sie in der Gertrude Stein Gallery gleich ein zehn Meter langes Boot. Dann überzieht Kusama damit Schuhe, Tische, alles Mögliche, und man kann sich leicht vorstellen, dass die Anfang 30-Jährige für einige Irritationen gesorgt hat.

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Modische Kreationen: Blick auf Brüste, Genitalien und Hintern

Das war freilich nichts gegen die Happenings, für die sich ihre Freunde bald darauf ausziehen und – nur mit Yayois roten Punkten am Körper – auf der Straße intim werden. Bis die Cops aufkreuzen. Diese provokanten Auftritte spülen ihr scharenweise Künstler ins Studio, alle wollen sie mit Kusama im Rampenlicht stehen. Und das mit heißen modischen Kreationen, die den Blick auf Brüste, Genitalien und Hintern freigeben.

Die Regisseurin selbst hält sich mit dieser Offenheit zurück und redet sich damit heraus, dass eine schließlich organisieren und alles auf den Punkt (sic!) genau koordinieren müsse. Kusama kann das großartig. Nicht nur Andy Warhol, Salvador Dalí, mit dem sie Hummer tafelt, und Claes Oldenburg sind schwer beeindruckt. Auch von ihren Friedensaktionen. Wer wagt es schon, auf der Höhe des Vietnamkriegs vor dem Gebäude der Vereinten Nationen 50 Flaggen anzuzünden? Und dann eine Runde Performer mitten auf der Wall Street nackt um das Denkmal George Washingtons für den Frieden tanzen zu lassen?

Irgendwann muss Kusama nur noch mit dem Finger schnippen, und Hunderte Hippies ziehen sich im Central Park aus, während sie selbst als Freiheitsstatue auf einem Felsblock posiert – lediglich mit einem BH und einem Brautschleier bekleidet.

Kusama beweist einigen Geschäftssinn, verausgabt sich, existiert nur mehr für ihre Kunst und ist getrieben von den kruden Erlebnissen ihrer Kindheit: Früh schon leidet sie unter Halluzinationen. Die eiskalte Mutter lässt Yayoi die ewigen Affären des Vaters ausspionieren – diese Bilder vom Sex sollten ihr nie mehr aus dem Kopf gehen – und bestraft das talentierte Mädchen, zerreißt ihre Zeichnungen, konfisziert die Tinte.

Mitte März soll die Retrospektive in Berlin gezeigt werden

Das verknüpft Elisa Macellari herrlich unverkrampft und ohne die Psychologie überzustrapazieren zu einem spannenden, berührenden Porträt, das zugleich Lust auf diese Kunst macht. Die Ausstellungen in den USA mussten abgesagt werden. Die große Retrospektive im Berliner Gropius Bau sollte bereits im Herbst eröffnen, mit viel Glück wird es jetzt der 19. März.

Damit alles klappt, hat die schrille Prinzessin der Punkte dem „furchtbaren Monster“ Coronavirus mit einem Gedicht den Kampf angesagt: „Verschwinde von dieser Erde! … Es ist Zeit, eine Hymne der Liebe für unsere Seelen zu suchen“. Da ist Yayoi Kusama mit ihren demnächst 92 Jahren ganz die Alte.

Elisa Macellari: „Kusama. Eine Graphic Novel“ (Laurence King Verlag, 128 Seiten, Übersetzung Juliane Lochner, 18 Euro)

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