Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker: Im Superflauschgang

Als Andris Nelsons vor genau einem Jahr als Dirigent des Wiener Neujahrskonzerts debütierte, war die Welt noch in Ordnung. Dann kam Corona – und drei Monate später mussten die Wiener Philharmoniker und Nelsons ihren Münchner Beethoven-Zyklus abbrechen. Das Neujahrskonzert kann zwar, noch einmal neun Monate später, wieder stattfinden, aber erstmals seit dem Kriegsjahr 1941 ohne Publikum im Saal. Dass die TV-Übertragung dennoch nicht den Charakter einer nüchternen Generalprobe hat, liegt gewiss nicht an dem über Lautsprecher eingespielten Live-Applaus, den über die ganze Welt verstreute Zuhörer via Mobiltelefon spenden können.

Das, was sich an Konzert-Atmosphäre einstellt, ist dem diesjährigen Dirigenten Riccardo Muti zu verdanken. Der gebürtige Neapolitaner, der in einem halben Jahr 80 Jahre alt wird, ist für dieses denkwürdige Konzert eine kluge Wahl. Seit einem halben Jahrhundert dirigiert er die Wiener Philharmoniker, heuer allein zum sechsten Mal das Neujahrskonzert. Derzeit spielt das Orchester unter keinem anderen in derart telepathischer Übereinkunft. Eine Freude, wie in der Ouvertüre zu „Dichter und Bauer“ von Franz von Suppé die superflauschigen Streicher nahtlos an das orgelgleiche Blech anschließen, das hingetupfte Holz auf ein geschmackvoll ausgesungenes Violoncello-Solo antwortet und sich alles organisch bis hin zur schneidigen Stretta entwickelt.

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Trotz leerer Ränge: Muti hat sichtlich Spaß

Selbst mit einem gähnend leeren Wiener Musikverein im Rücken verliert Muti nicht die gute Laune. In der „Niko-Polka“ von Johann Strauß Sohn knallt ein Tutti unvermittelt in die Stille wie ein Champagnerkorken, an dem niedlichen Xylophon im Galopp „In Saus und Braus“ von Karl Millöcker hat Muti sichtlich Spaß, und wenn die Musiker in der Schnell-Polka „Ohne Sorgen“ von Josef Strauß mitlachen, stellt sich trotz abwesenden Publikums keine Geisterstimmung ein. Gleich zwei Stücke scheinen dem Italiener wie auf den Leib geschneidert, der „Venetianer-Galopp“ von Strauß Vater mit seinen klappernden Kastagnetten und die „Neue Melodien-Quadrille“ von Strauß Sohn, deren Zitate unter anderem aus „La Traviata“ dem Verdi-Spezialisten Muti Tribut zollen.

Und noch etwas ist bemerkenswert: Kein Dirigent der letzten Jahre hatte eine so verschwindend niedrige Verwackler-Quote wie Muti, der sogar immer wieder aufreizend die Arme sinken lässt, um einfach zuzuhören. Selbst, wenn in einem nachdenklich ausgekosteten „Donau-Walzer“ von Strauß Sohn die Auftakte schier ewiglich in der Luft schweben, artikulieren die Wiener Philharmoniker als ein einziger symphonischer Körper. Dass schließlich bei der obligatorischen Zugabe, dem „Radetzky-Marsch“ von Strauß Vater in diesem Jahr das Mitklatschen des Publikums entfällt, sollte nach Ansicht des Rezensenten eine neue Tradition begründen.

Die CD des Konzerts erscheint am 15. Januar bei Sony Classical

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