Kunstspaziergang am Gasteig: Blaue Stunde voller Überraschungen

München – Seine Tage sind gezählt, der Gasteig-Umbau rückt näher: Im Oktober wird das Interimsquartier in Sendling eingeweiht.

Die Philharmoniker ziehen als Erste um, Stadtbibliothek, Hochschule für Musik und Theater sowie Volkshochschule folgen bis Frühjahr 2022. Der Klinker-Koloss mit Glas-Kaskade, der seit 1985 am Isarhochufer aufragt, galt vielen als Bausünde, aber mit diesem Kunst-Spaziergang sollen seine guten Eigenschaften gewürdigt werden.

Kunst am Gasteig: Auf Entdeckungstour

Es ist eine Tour für alle, die schon oft den „gachen Steig“ zum Gasteig erklommen haben und unter Rupprecht Geigers „Gerundetem Blau“ und Alf Lechners „Flächendurchdringung“ vorbei in die Philharmonie, einen der Vortragssäle oder in die Bibliothek gehechtet sind.

Eine Einladung, noch einmal genauer hinzuschauen – denn es gibt einiges zu entdecken. Die umfangreiche Sammlung der Foto-Arbeiten, Plastiken und Zeichnungen und Gemälde im Inneren sei hier nebenbei erwähnt, denn es soll keine Indoor-Runde werden.

Gasteig-Kunst zieht mit nach Sendling um

Auch wenn es derzeit möglich und nicht verboten ist, allein durch die Flure zu streifen und etwa Bronzereliefs von Günter Förg, Evangelisten-Gemälde von Thomas Lehner, Landschaften von Per Kirkeby oder den „Wasseresel“ von Herbert Achternbusch zu suchen.

Und damit einen Überblick über die in und für München wichtige Kunst der letzten 30 Jahre zu bekommen. Vieles davon soll, so Gasteig-Sprecherin Isabella Mair, denn auch nach Sendling mitkommen und dort quasi in „Petersburger Hängung“ im Foyer der Philharmonie zu sehen sein.

Hingucker „Gerundetes Blau“ von Rupprecht Geiger

Äußeres Wahrzeichen des Gasteigs aber ist Geigers „Gerundetes Blau“: Die Form aus lackiertem Aluminium (1987) ist eigentlich ein Oval mit rund sieben Metern Durchmesser. Weithin sichtbar „markiert“ es am Hang das Celibidacheforum – und ist nicht das Logo eines Unterhaltungselektronikkonzerns.

Aufs Bauhaus geht die Zuordnung der Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck zu den Grundfarben Blau, Rot und Gelb zurück. Geiger allerdings hielt rund 60 Jahre später Oval und liegendes Rechteck für „offener in ihren optischen Maßen“, weshalb sie „als Ausdruck der Zeit jetzt und vor uns besser geeignet“ seien.

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Davon abgesehen steht das blaue Volumen in Kontrast zu den harten Konturen der Klinkerfassaden – und in unmittelbarem Dialog zu Alf Lechners hoher, spitz zulaufender Stahl-Stele (1979 bis 1983) nebenan. „Flächendurchdringung“ nannte der Stahl-Bildhauer, der keine Angst vor großen Dimensionen hatte und tonnenschwere Stahlteile zersägte, fräste und verbog, seine knapp 24 Meter aufragende Skulptur. Eine erstaunlich elegant wirkende Stele aus zwei langgezogenen Flächen, die sich im rechten Winkel und leichter Neigung gegenseitig durchdringen.

Geigers Rund und Lechner Stele: Kommunizierende Gegensätze

So unterschiedlich die Wahl ihrer künstlerischen Mittel war, so verband Geiger und Lechner nicht nur die Abstraktion, sondern auch eine lange Freundschaft. Geigers Rund und Lechner Stele sind Gegensätze, die formal und ideell miteinander kommunizieren. Während das blaue Oval während des Umbaus nach Sendling mit umzieht, wird die schwer transportable Stele eingelagert.

Susanne Wagner: Fassaden-Arbeit „Inklusionspunkt“

Wenn man von hier aus auf die Stirnwand über dem Celibidacheforum schaut, fällt ein aus vielen bunten Punkten zusammengesetzter Kreis ins Auge, der einen schwebend leichten Akzent an der wuchtigen Front setzt. Die Münchner Künstlerin Susanne Wagner schuf ihre Fassaden-Arbeit mit dem Titel „Inklusionspunkt“ 2015.

Sie besteht aus 79 Aluminiumscheiben in zehn verschiedenen Farben und soll Bekenntnis und Logo für ein „gleichberechtigtes Miteinander ohne Ausgrenzung“ sein – das unter Corona-Bedingungen noch weniger eine Selbstverständlichkeit ist.

Türmer-Stübchen bietet Raum für Performance-Arbeit

Wer von hier linker Hand auf den Stadtbalkon vor der Philharmonie geht, der trifft an dessen Ende auf eine Stele aus Granit. Sie ist im Vergleich mit Lechner eher klein (ca. zwei Meter) und stammt vom Münchner Steinbildhauer Nikolaus Gerhart. Eine waagrechte Einbuchtung und ein pfeilartiger Schnitt sind die einzige deutliche Spur von Bearbeitung – abgesehen vom Herausarbeiten der eckigen Grundform. Die Steinskulptur stammt aus einer Zeit, in der die Begeisterung für das pure Material und die minimalistische Bearbeitung eine künstlerische Haltung war.

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Aus einem anderen Holz geschnitzt ist das Türmer-Stübchen, das sich wie ein Kokon direkt über einem auf dem höchsten Punkt der Philharmonie festgesetzt hat. Es bietet temporär Raum für die partizipative Performance-Arbeit der britischen Choreographin Joanne Leighton. Zweimal täglich kann man hier bis 12. Dezember bei Sonnenauf- und -untergang Teil des Kunstwerks werden (Termine ab 1. Juli wieder buchbar über www.tuermer-muenchen.de).

Brunnen in Form einer riesigen Tuba

Nimmt man den Weg zum Forum zurück und den Durchgang nach Osten, dann steht man zwischen Gasteig und
GEMA-Gebäude vor Albert Hiens „Erich-Schulze-Brunnen“. Schulze hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte aufgebaut. Der Brunnen, der 1990 aufgestellt wurde, hat die Gestalt einer 7,5 Meter hohen Tuba aus Messing, aus deren Schalltrichter während der Brunnensaison das Wasser sprudelt und durch mehrere Windungen in ein Bassin in der Kontur eines Flügels fließt.

Wer sich knappe hundert Meter weiter in den GEMA-Komplex hineinwagt, stößt sogar noch auf eine überdimensionierte Hupe mit golden glänzendem Handbalg. Sie gehört ebenfalls zu Hiens Installation und sollte ursprünglich mit einem Wasserlauf verbunden werden.

Vierteilige Installation von Thomas Thiede im Gasteig-Inneren

Zurück im Gasteig geht’s zum Schluss doch noch ins Innere – in die große Glashalle. Kein permanentes Kunstwerk am Bau ist die vierteilige Installation „Ungläubiger Thomas“ von Thomas Thiede oberhalb der Rolltreppen. Sie ist Relikt des „RischArt“-Projektes, das 2020 rund um den Gasteig stattfand. Der Künstler hat an vier Wandpfeilern je einen ausgestopften Löwen, einen Antilopenkopf, einen Kormoran sowie einen Monitor mit dem Standbild eines jungen Mädchens angebracht.

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Der Künstler huldigt damit der Skepsis seines heiligen Namensvetters und setzt sie in Bezug zu den großen Geschichtenerzählern des Neuen Testaments – wiederum den vier Evangelisten. Deren Symbole Löwe, Adler, Stier und Engel interpretiert er sehr frei.

Gasteig-Architektur steht für Slogan „Kultur für alle“

Und hier im nüchternen, funktionalen Eingangsbereich zeigt sich das Beste des Hauses: seine Offenheit. Hier wird „keine Diskriminierung“ geduldet, das steht nicht nur – in Ergänzung zur Hausordnung – geschrieben, sondern wird beim Betreten der Halle spürbar. Hier ist Platz für alle – ob Schulkind auf Bücherjagd, Kulturliebhaber ohne festen Wohnsitz oder die Oma, die endlich Finnisch lernen will. Und sogar in Pandemie-Zeiten ist dieser Ort sachte belebt.

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Man braucht keinen dicken Geldbeutel um teilzuhaben, sondern nur eines: Neugier. Das ist alles andere als elitär und trotzdem anspruchsvoll. Die Architektur mag in die Jahre gekommen sein, aber sie ist Ausdruck einer Zeit, in der „Kultur für alle“ nicht nur Slogan, sondern politische Haltung war. Was man vor Corona auch in der Bibliothek erleben konnte.

Darum wird auch gerade hier deutlich, wie einschneidend die aktuellen Beschränkungen sind: weil aus „Alle“ längst „Vereinzelte“ geworden sind. Doch dieser Geist ist es, den man – nach der Pandemie – im Interimsquartier ebenso wie später im Neuen Gasteig unbedingt wiederzufinden hofft.

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