Kritik zu ‚Pieces of a Woman‘: Das Unplanbare

Mit der Erfindung der Uhr hat die Zeit Eindeutigkeit. Aber natürlich gibt es daneben ein subjektives Zeitempfinden. Wenn anfangs in „Pieces of a Woman“ 20 Minuten lang eine quälende Hausgeburt gezeigt wird, ist das eine extreme Filmerfahrung. Die Handkamera hastet zwischen den Zimmern der großen Wohnung umher, man schaut in die Gesichter des überforderten Ehemanns (Shia LaBeouf) und der Gebärenden (Vanessa Kirby). Der Kampfort ist der weibliche Körper. Man sieht ihr Gesicht zwischen Schmerz, Anstrengung, Glückserwartung, der Blick changiert zwischen flehend anwesend, schmerzhaft abwesend, dann wieder – wie auf Märtyrergemälden – fast verklärt.

Vanessa Kirby geht hier an die Grenzen der Schauspielkunst. Dazu Stöhnen, Schreien, Wimmern und aufgeregte, dann panische Kurzdialoge. Dann wiederum geht alles schnell. „Pressen“, sagt die Geburtshelferin, in deren Augen aber auch Panik aufflackert. Sie hört die Herztöne des Kindes nicht mehr. Die Kamera wirft Schlaglichter auf vermeintliches Mutterglück, Grauen, den Vater, die Hebamme, Hektik, Rennen und den Notarzteinsatz. Denn das Kind ist da, aber kein erlösender Babyschrei ertönt. Das Kind ist tot.

Harte Szenen bei „Pieces of a Woman“: Mehr als nur Augenzeuge

Diese intensiven Filmminuten penetrieren den Zuschauer derart, dass sie sich doppelt so lange anfühlen, aber fesseln, weil man meint, fast mehr als nur Augenzeuge zu sein. In Wirklichkeit wiederum zöge sich so eine Geburt über Stunden. Filmisch ist hier dem ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó die verdichtete Umsetzung einer Grenzerfahrung gelungen – durch Schnitt und Kamera (Benjamin Loeb) mit ihren Wahrnehmungsfetzten, der Vermischung der Perspektiven, des Gefühlschaos.

 

Bei der Premiere bei den Filmfestspielen in Venedig im vergangenen Spätsommer hatten da bereits einige Zuschauer den Kinosaal verlassen. Verständlich und doch verfrüht, weil sich auf dieser harten Exposition und Grundlage eine hochinteressante Geschichte entfaltet – basierend auf der Frage, wie die Eheleute, die Umgebung, die Gesellschaft mit Tod und Trauer, dem Verlust eines so erhofften Kindes umgehen?

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Verletzung wird Sarkasmus

Martha, die Kindsmutter und leitende Büroangestellte und Sean, der Vater und Ingenieur gehen nicht nur emotional getrennte Wege: Sie verwandelt ihre Verletzung in Sarkasmus um, und in ihren Alltag streuen sich tranceartige Abwesenheitsphasen. Und er? Sean, der auch unter Druck steht, weil er in das Geld der Familie seiner Frau eingeheiratet hat, leitet seine Hilflosigkeit und die Unabänderbarkeit in Aggression und Aktion ab, will den Fall auch juristisch und mit Ärztegutachten in den Griff bekommen, weil die anwesende Ersatzhebamme einen Fehler gemacht haben könnte. Die gewünschte Hebamme war bei einer anderen Geburt unabkömmlich. Bei aller modernen Geschlechterangleichung mit dem leicht unterlegenen Sean läuft doch ein typisches Männer-Frauen-Schema ab. Überhaupt bleibt „Pieces of a Woman“ ein Spiegel der klassischen gehobenen US-Mittelschicht, auch mit der Hausgeburt als aktuelle Modeerscheinung.

Seine Workaholic-Ingenieursarbeit, die recht groß angelegte Villa, das von seiner Schwiegermutter (Ellen Burstyn) verpflichtend geschenkte Familienauto – alles sind Insignien einer Wohlstandswelt, die die Krux hat, perfekt sein und funktionieren zu müssen. Scheitern, Trauer und Tod sind nicht vorgesehen, vor allem, wenn ein religiöse Rahmen bereits weggefallen ist.

„Pieces of a Woman“: Symbolisch aufgeladene Psychologien

Die Drehbuchautorin Kata Wéber ist die Lebensgefährtin von Kornél Mundruczó. Bei den Filmfestspielen in Venedig hat er erzählt, dass die Geschichte nach einer Fehlgeburt seiner Frau entstanden ist, als er eine Art Tagebuch seiner Frau fand, in dem sie auch einen Dialog mit dem toten Kind führte.

Mundruczó und Wéber erzählen vordergründig realistisch. Aber die Psychologien hinter „Pieces of a Woman“ werden zum Teil extrem symbolisch aufgeladen: Die halbfertige Brücke, an der Sean mitbaut, führt noch ins Nichts, im Zerrüttungsprozess wird das Geschirr zuhause nicht mehr abgespült, sie beginnt zu rauchen. Hier wäre weniger durchaus mehr gewesen. Aber natürlich bleibt „Pieces of a Woman“ ein starker Film. Ob das Drama – statt wie geplant auf Kinoleinwänden – privat gestreamt noch die gleiche Wucht entfalten kann, muss jeder selbst entscheiden. Oscarkandidaten wird man hier aber auf jeden Fall finden.

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