Karl Richter: Wie man den Lockdown mit Barockpracht durchfeiert

Natürlich gab es auch schon vor Karl Richter Bach in München, aber durch ihn wurde er schick. Zu dessen Passionsaufführungen im Kongresssaal des Deutschen Museums vor einem halben Jahrhundert pilgerte „man“ hin, wie heute allenfalls zu einer Festspielpremiere in der Bayerischen Staatsoper.

Alles, was Richter mit und ohne seinen Bach-Chor für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat, liegt nun ein einer ziemlich schweren Box mit fast hundert CDs auf dem Tisch. Die Matthäuspassion, die Messe in h-moll und Händels „Messias“ sind sogar doppelt vorhanden: in Aufnahmen, die mit etwa 20 Jahren Abstand entstanden.

1951 wurde Richter Kantor von St. Markus in München

Die Grenzen des 18. Jahrhunderts sprengen nur Orgelwerke von Liszt und Max Reger sowie eine Aufnahme von Beethovens Messe in C-Dur. Richter war auf Barockmusik festgelegt, auch wenn ihn (angeblich) Wieland Wagner nach Bayreuth locken wollte und er im Konzert auch Verdis „Requiem“ dirigierte (wovon außerhalb dieser Box ein Mitschnitt existiert).

Der 1926 in Plauen geborenen Richter sang als Kind im Dresdner Kreuzchor und wurde Organist der Leipziger Thomaskirche. Wahrscheinlich wäre er nach einigen Jahren Thomaskantor geworden, doch 1951 kehrte er der DDR den Rücken und wurde Kantor von St. Markus in München. Aus dem dortigen Heinrich-Schütz-Kreis wurde 1954 der Münchener Bach-Chor, der zusammen mit dem von Richter aus der Elite der hiesigen Klangkörper zusammengestellten Bach-Orchester schnell international bekannt wurde und es bis zum frühen Tod des Dirigenten, Cembalisten und Organisten im Jahr 1981 auch blieb.

Karl Richter: Damals modern und sachlich heute romantisch

Richters Stil gilt heute, aus der Sicht der allgegenwärtigen historischen Aufführungspraxis als „romantisch“. Damals galt sein Musizierstil mit eher streng durchgehaltenen straffen Tempi, einem hellen, transparenten Klang als modern und sachlich. Diese Beschreibung erweist sich auch heute als nicht falsch: Der Zeitgeist von klaren, weißen und ornamentlosen Bauten dieser Jahre wie der Maxburg und der beim Wiederaufbau entgotisierten Markuskirche durchweht diese Musik.

Nicht nur die von Richter traktierten Cembali mit ihrem Klang aus Stahl und Eisen sind aus heutiger Sicht eine Kuriosität. Befremdlich wirkt auch Händels tiefer gelegte Oper „Giulio Cesare in Egitto“ mit dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und dem Bassisten Franz Crass in Koloraturpartien, die heute entweder Mezzosopranistinnen oder Counter-Tenöre singen. Bei mehr als einer ledern gesungenen Aufnahme eines seinerzeit hochgeschätzten Evangelisten wird man feststellen, dass es in der Interpretations- und Gesangskunst durchaus nicht nur unterschiedliche Geschmäcker, sondern tatsächlich auch so etwas wie einen Fortschritt gibt.

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Auch wenn der Chor etwa den Titel der Kantate „Aus tiefster Not schrei ich zu Dir“ allzu wörtlich nimmt, versteht auch der heutige Hörer, wieso der jugendliche Klang des Bach-Chors damals international das Publikum mitriss. Richter interpretiert die Musik stets emotional und kraftvoll, und das ist etwas, was heute manch allzu säuselnd-samtpfötiger Aufführung abgeht.

An den schon damals nicht unbekannten Aufführungsbedingungen der Bach-Zeit orientierte sich Richter nie. Er ließ die traditionell besaitete Streicher mit viel Vibrato orgeln und große gemischte Chöre singen, wo Bach nur ein paar Knaben zur Verfügung hatte. Dazu braust die Orgel immer festlich und im vollen Werk.

Top-Opernsänger sorgen für Zeitlosigkeit

Als Sahnehäubchen engagierte die Plattenfirma die Créme der an Mozart, Wagner und Richard Strauss geschulten Opernsänger aus der Liga von Christa Ludwig, Gundula Janowitz, Fritz Wunderlich, Peter Schreier und Theo Adam. Das macht Richters Aufnahmen der Musik Bachs – von manch zeitbedingter Unebenheit abgesehen – in gewisser Weise zeitlos, auch wenn es Puristen und Pedanten die Haare sträubt.

Herzstück der Box sind nicht die Groß-Werke Bachs, von denen nur die Motetten fehlen, sondern die rund 30 CDs mit Kirchenkantaten. Die sind, weil man spezialisierte Instrumentalisten braucht, die dann nur ein, zwei Arien begleiten, außerhalb protestantischer Gotteshäuser eher selten zu hören. Und das ist angesichts von nur allenfalls Experten bekannten Prachtstücken wie „Herz und Mund und Tat und Leben“ wirklich ein Verlust. Und weil Richter das Prächtige liebt und bevorzugt aufgenommen hat, lässt sich mit den 97 CDs dieser Box jeder Lockdown barock durchfeiern.

Karl Richter: Complete Recordings on Archiv Produktion and Deutsche Grammophon, 97 CDs, 3 Blu-ray Audio Discs, Booklet mit 176 Seiten

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