Fulminante Gedächtnisarbeit

Ein bisschen hat man das Gefühl schon vergessen, im Schauspielhaus der Kammerspiele zu sitzen und einen Theaterabend zu erleben. Der erste große Abend, der jetzt dort zu sehen war, brachte fulminant ins Bewusstsein zurück, wie anregend und höchst unterhaltsam Theater sein kann.

Zack, wirft Gro Swantje Kohlhof gleich am Anfang die Tür des Eisernen Vorhangs zu und haut einem dann rasant einen Monolog um die Ohren, bei dem sie all das aufzählt, was vom Ende des Zweiten Weltkriegs und der „angeblichen“ Befreiung vom Faschismus bis hin zum Mauerfall alles über die Deutschen weltweit gesagt wurde. In der Liste kommen das Oktoberfest und die Tenniserfolge von Boris Becker genauso vor wie die Massenvernichtungslager, die Entnazifizierung und der Türkenwitz.

Erfolge und Niederlagen, Deutschtümelei und anhaltende Ressentiments – all das und noch viel mehr fand sich in der Bundesrepublik, und selbst wenn man versuchte, die Ereignisse des Dritten Reichs zu verdrängen, blieben sie im internationalen Gedächtnis bestehen. Einige dunkle, braune Linien wurden unaufhörlich weitergezogen, worauf einige aufmerksam machten. Zum Beispiel Gisela Elsner. Die 1937 in Nürnberg geborene Schriftstellerin stellte in ihren Werken knallhart-satirisch dar, wie der Faschismus in den Köpfen weiterspukte, positionierte sich als Sympathisantin des DDR-Sozialismus, war bis Anfang der Neunziger-Jahre Mitglied der DKP. Zudem setzte sie dem spießbürgerlich-patriarchalen System einen anarchisch-feministischen Geist entgegen, mit dem sie ihrer Zeit weit voraus war. Dass sie nach ihrem Freitod 1992 schnell in Vergessenheit geriet, ist wohl letztlich dem schlichten Umstand geschuldet, dass sie eine Frau war.

Wie herablassend-sexistisch die Presse mit der bereits für ihr Roman-Debüt „Die Riesenzwerge“ (1964) preisgekrönten Autorin umgegangen ist, darf man in szenisch aufbereiteten Interviews nacherleben. Elsner sei ja gut ausgestattet, befindet Gro Swantje Kohlhof als Moderatorin: „Ist das nicht ein Hindernis, um eine ernstzunehmende Schriftstellerin zu werden?“

Was Pinar Karabulut, die seit Beginn der Intendanz von Barbara Mundel zur kreativen Leitung der Kammerspiele gehört, mit ihrem Team an diesem Abend leistet, ist Gedächtnisarbeit im Dienste der schmählich Vergessenen, wobei Karabulut ihre Regiehandschrift an neuer Wirkungsstätte einprägsam vorstellt. Könnte man beim kursorischen Blick in das Werk von Gisela Elsner vielleicht noch meinen, dass da mancher Inhalt und sprachliche Ausdruck angestaubt sei, fegen Karabulut und das Ensemble solche Bedenken furios weg. Mit Elsnerschem Elan katapultieren sie deren Œuvre in eine poppige Postmoderne, wo Kostüme und Gags knallen dürfen, weil die reizübersättigten Gehirne von Heute wahrscheinlich auch starke Impulse brauchen, damit Sozialkritik sich überhaupt noch einprägt.

So setzt Karabulut im ersten Teil des Abends ein Konzentrat aus Elsners Roman „Fliegeralarm“ (1989) als monströse, comichafte Puppen-Show in Szene, wobei die hochtoupierten, in schrillen Kleidern steckenden Darstellerinnen und Darsteller eigentlich Kinder verkörpern, die in den Nachwehen des Dritten Reichs mit Kriegs-Memorabilia dealen und als aufrechte Nachwuchs-Nazis ihr eigenes KZ errichten wollen. In dieses fiese Kinderspiel sampeln Karabulut und Dramaturg Medhi Moradpour Szenen hinein, die aus einem anderen Roman Elsners, „Heilig Blut“, stammen. Drei Altnazis gehen darin auf die Jagd und nehmen den Sohn eines vierten mit. Als Wehrdienstverweigerer gerät der Junge buchstäblich ins Visier der Alten. Während die Lebenden auf der Halfpipe herabrutschen, die den düster gehaltenen Raum bestimmt (Bühnenbild: Bettina Pommer), wird eine Leiche dann per Seilzug nach oben gezogen. Eine mörderische Maschinerie ist da im Gange.

Dem zweiten Teil des Abends, der aus Elsner-Schnipseln – Essay-Auszügen, Kurzgeschichten, Interviewpartikeln – besteht, gibt Karabulut die Form einer Olympiade, mit dem Ensemble als (DDR-)Olympioniken. Wiebke Puls scheitert als Sport-Diva ein aufs andere Mal in verschiedenen Disziplinen; Bekim Latifi und Vincent Redetzki berichten als sensationsgeile Reporter über Elsners Begräbnis und galoppieren dabei als wilde Pferde durch die (Medien-)Manege. Edmund Telgenkämper und Stefan Merki teilen sich den Text über den Angestellten einer Schraubenfabrik, der keine einzige Schraube bei sich zu Hause sehen will und unter Albträumen leidet, in denen er alle Schrauben zählen soll. So macht die Arbeit das Hirn des Arbeitenden kaputt. Wie kann man sich gegen diese Welt nur wehren? Immerhin: Weil sie es satthat, dass Frauen über 50 nicht mehr begehrenswert sein sollen, greift Annette Paulmann zum Mikro und rappt mit Grandezza ein paar Elsner-Zeilen.

Mit dem dritten Teil des Abends, einer filmischen Annäherung an den Roman „Das Berührungsverbot“, in dem Gisela Elsner ein paar Spießbürger verkrampft eine Orgie feiern lässt, beweisen Karabulut und ihr Team, dass Kino im Theater wunderbar funktionieren kann. Das auf den eisernen Vorhang projizierte Video (Kamera und Schnitt: Su Steinmassl) kann von seiner Ästhetik mit den Filmen von Elsners Sohn Oskar Roehler oder anderen Vorbildern, von Buñuel-Klassikern bis hin zum italienischen Horror-Subgenre des Giallos, locker mithalten. Am Ende attackieren männliche Blicke den Körper einer Frau, von Zeynep Bozbay mystisch-still gespielt. Bozbay ist es dann auch, die am Ende den energetischen Schlusspunkt setzt. Im Regen, in einer Pfütze hin- und her wütend bringt sie die sozialkritischen Diskurse der vorherigen zweieinhalb Stunden noch einmal auf den Punkt.

Mehr Einsatz geht nicht. Als liebevoll-knalliges Porträt funktioniert Karabuluts Inszenierung genauso wie als ausführlicher Appetizer, sich mit Giselas Elsners Werk genauer auseinanderzusetzen. Wie sie denn eines Tages sterben will, wurde die Schriftstellerin einmal gefragt. „Ich möchte niemals sterben!“ ruft Bekim Latifi als Elsner dazu lauthals. Mission Verewigung: in aller theatralen Flüchtigkeit geglückt.

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