Dok.Fest-Gewinnerfilm ‚Anny‘: Ein leichter Schatten

Am Ende steht eine Kerze in der Fensterluke, dort wo sie zuletzt oft saß und ein paar Kronen kassierte – je nachdem, ob man stehen oder sitzen wollte, etwas mehr oder weniger. Anny war eine Toilettenfrau in einem öffentlichen Untergeschoss zwischen alten weißen Kacheln und großen Pissoirs.

Es ist 2012, der Film von Helena Trestikova endet hier, aber kurz zuvor hat man die 64-jährige Anny noch tanzen sehen, auf einem kleinen Maskenball der Sozialberatungsstelle für Prostituierte, wo sie sich engagiert hat und auch zur Theatergruppe gehörte.

Schostakowitschs melancholischer Walzer wird an der Partyorgel gespielt, Anny hat zuvor noch einmal ihren Song gesungen mit einer von Zigaretten ruinierten, blechernen Gossenstimme – vom „Leben, das einem nichts schenkt“.

16 Jahre hartes Leben in einer Doku

Sie trägt dabei eine schwarze Kutte und hat die Horrormaske aus dem Film „Scream“ auf, die dem Schrei-Gesicht von Edvard Munch nachempfunden ist.

Ein hartes Leben endet, das die Regisseurin 16 Jahre begleiten durfte. Von der 48-jährigen Anny – kurz nach dem Einstieg ins Prostitutionsgeschäft – bis zu ihrem Lungenversagen: Immer ist der Film nah dran, niemals voyeuristisch und bei alledem dem Gegenüber und uns Zuschauern immer Raum lassend, um eigene Schlussfolgerungen zu ziehen.

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Das große Geschenk dieses Films ist diese Anny, deren bürgerlichen Namen man sogar kurz erfährt, als sie spät zum zweiten Mal heiratet, einen Geschäftsmann, der dann aber doch wieder zu seiner ersten Frau zurückkehrt. Davor sieht man eine kurze Glücksphase einer Frau, die den Film atmosphärisch in einer Dauerschwebe hält zwischen Glückssuche, nicht immer unverschuldeten Schicksalsschlägen, zwischen lakonischem Witz und Nüchternheit. Und keine Sekunde wirkt etwas gestellt, weil Anny ohne jegliche Redseligkeit einfach nur sagt, was sie denkt: über ihr Leben, das vom Prekären in sozialistischer Zeit ins Subproletarische abgesackt ist, über die Prostitution, über den Traum vom Nicht-Alleinsein.

Anny: Realismus mit ein bisschen Traumtänzerei

Fatalismus ohne Resignation, oft geerdeter Witz, immer Realismus mit ein bisschen Traumtänzerei: Das alles ist schwer und doch leicht tänzerisch. Als Anny einmal für einige Wochen einen tauben Arm hat, vermutet ein guter Bekannter eine Arbeitsverletzung, wie eben einen Tennisarm bei Tennisprofis, was sie aber nüchtern kontert, es sei der linke und sie Rechtshänderin. Oder als es eine Frührentenerhöhung gibt, stellt sie fest, dass es immerhin für zwei Packungen Zigaretten im Monat mehr reicht.

Warum Anny anschafft? Sie sieht das unproblematisch, pragmatisch: Weil das wenige Geld nicht reicht, um wenigstens gelegentlich Geschenke für die Enkel kaufen zu können oder auch um sich – in ihrem Alter durchaus auch selbstironisch – selbst noch einmal auszuprobieren. Wobei im Film die Freier nur in ihren Erzählungen vorkommen, auch wenn man Nachtaufnahmen der einschlägigen Prager Straßen sieht.

10.000 Euro hat Helena Trestikova auf dem Dok.Fest München gewonnen: den „Viktor“ als Bester Internationaler Dokumentarfilm. Ein ehrlich verdienter Sieg.

„Anny“, wie alle weiteren 130 Filme des Dok.Fest-Programms – kann man unter www.dokfest-muenchen.de streamen

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