Die Kunst der vielsagenden Worte – ein Innenstadt-Spaziergang

München – „Junge jüdische Frau auf Deutschlandbesuch würde sich gerne mit jedem, der dies hier liest, über alles Mögliche unterhalten.“ Mit dieser Zeitungsannonce lud die israelische Künstlerin Sharone Lifschitz 2006 Menschen aus ganz Deutschland zum Meinungsaustausch ein.

Schrift-Installation am Jüdischen Museum

200 Interessierte meldeten sich, mit 45 führte sie Gespräche. In Teilen sind diese an den Fensterfronten des Jüdischen Museums am Sankt Jakobsplatz zu lesen, etwa „Ja. Aber ohne den Schinken“. In der Schrift-Installation mit dem Titel „Speaking Germany” finden sich lauter Antworten ohne Fragen, die irritieren – und neugierig machen. Und tatsächlich sieht man fast immer Passanten, die vor dem derzeit geschlossenen Museum stehen bleiben und die Textfragmente aufmerksam lesen.

Fünf tönende Steine bringen eine dunkle Gasse zum Klingen

Neugierige, die sich von hier aus in die hohle Gasse wagen, die zwischen Jüdischem Gemeindezentrum und Angerhof zum Oberanger führt, werden von einer Klang-Plastik im Verborgenen belohnt. Von Andrea Schmeing-Häusler stammt die Idee, ins Kopfsteinpflaster neben dem Eingang zum Parkhaus fünf bronzene Steine einzulassen, durch die unsichtbare Kirchenglocken läuten. Fünf Steine, fünf Töne – die Installation bringt täglich zwischen 10 und 17 Uhr die schmale, dunkle Gasse zum Klingen.

Im Innenhof wartet ein sechs Meter hohes Molekül

Wessen Blick hier den Himmel sucht, der wird ebenfalls fündig: Zwei drehbare Licht-Installationen des New Yorker Künstlers Keith Sonnier, ein Kreis mit blauer und ein Quadrat mit roter Leuchtröhre, sorgen im schachtartigen Durchgang für ein wenig visuelle Abwechslung. Im Innenhof nebenan stößt man sogar auf ein sechs Meter hohes Molekül aus glänzend poliertem Stahl, das Christopher Klein für den einstigen Hauptsitz der Linde AG schuf. Es entstand, wie die Kunstwerke in der Gasse, 2008.

Ein Bodendenkmal für verfolgte Homosexuelle

Von hier aus läuft man den Oberanger in Richtung Rindermarkt bis zur Einmündung der Dultstraße. Hier befindet sich seit 2017 ein Bodendenkmal für die in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen. An der Ecke lag das in den 1920ern gegründete „Gasthaus Schwarzfischer“, ein bekanntes Schwulenlokal. 1934 wurden bei einer Razzia über hundert Gäste festgenommen und teilweise ins KZ Dachau gebracht. Die Karlsruher Künstlerin Ulla Brandenburg schuf zur Erinnerung ein Bodenmosaik aus bunt gefärbten Betonplatten, in die rosa und schwarze Winkel eingelassen sind – das in der Nazi-Zeit diffamierende Kennzeichen, das sich Homosexuelle und „Arbeitsscheue“ an die Brust heften mussten.

„Jedes Menschenleben soll heilig sein“

Weiter geht’s den Oberanger entlang zurück Richtung Sendlinger Tor. Da begegnet man – nach Eröffnung der Brunnensaison – zunächst dem „Mädchen auf der Schildkröte“, einer Bronzeskulptur, die Jean Henninger 1971 schuf. Dahinter sieht man bereits ein seltsames Glasgehäuse aufragen: „Jedes Menschenleben soll heilig sein“ steht darauf geschrieben. Unweit der SPD-Landeszentrale wurde 2011 das städtische Denkmal für Kurt Eisner eingeweiht, Bayerns ersten Ministerpräsidenten. Rotraut Fischer entwarf die offene Struktur, in der sich im Grundriss zwei Rechtecke schräg ineinander schieben. Eine Arbeit, die aufgrund des für Eisners Gesinnung wenig aussagekräftigen Zitats nicht für einhellige Begeisterung sorgte – und das auch heute formal und inhaltlich mehr verwundert als begeistert. Zumal es nicht das einzige Denkmal für den USPD-Politiker, Journalisten und Pazifisten ist, der 1919 auf dem Weg in den Landtag in der Kardinal-Faulhaber-Straße von Anton Graf Arco Valley erschossen wurde. Dort gibt es bereits seit 1989 Erika Maria Lankes‘ Bodendenkmal mit den Umrissen des Ermordeten.

Nächster Halt: Sendlinger-Tor-Platz

Am Sendlinger-Tor-Platz ist der nächste Halt der Tour: Vor dem Bauzaun südlich des Tores wirkt die blaue Stele des 2002 eingeweihten AIDS-Memorial zurzeit etwas verloren. Entworfen wurde es vom als Fotograf international berühmten Wolfgang Tillmans. Die Keramik-Stele setzt die Pfeiler der darunterliegenden U-Bahn-Station oberirdisch fort und erinnert symbolisch an die Toten der AIDS-Epidemie – und deren Stigmatisierung – seit Ausbruch Anfang der 1980er Jahre.

Eine Matratze aus Bronze neben dem Alten Südfriedhof

Von hier aus überquert man den Sendlinger-Tor-Platz nach links zur Thalkirchner Straße. Auf dem Stephansplatz steht der Spitzwegbrunnen (1980) von Konstantin Frick, eine amorphe Bronze-Kugel, über die im Sommer das Wasser läuft. Schräg gegenüber neben dem Tor zum Alten Südfriedhof wurde 2013 Tatjana Trouvés Brunnen „Waterfall“ installiert: Eine Matratze aus Bronze, die über eine Betonmauer hängt und aus der stetig Wasser tropfen sollte. Der Ironie-getränkte Wasserfall ist allerdings schon länger auf dem Trockenen und sieht arg mitgenommen aus.

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Die „Große Flora V“ 

Den Alten Südfriedhof lassen wir links liegen, dafür braucht es einen eigenen Spaziergang. Nächster Stopp ist das neobarocke Haus Thalkirchner Straße 56. Hier war von 1914 bis 1987 das Münchner Arbeitsamt untergebracht, ehe es bis 2010 unter Beihilfe des Designers Philippe Starck zur Luxuswohnanlage umgebaut wurde. Vor dem Eingang ragt seit 1991 ein Werk des Landshuter Bildhauers Fritz Koenig auf. Die „Große Flora V“ aus Bronze, die es in mehreren Fassungen gibt, öffnet über einem etwa drei Meter hohen Stiel ihre stilisierte Blüte aus halben Kugeln und Kegeln.

Noch mehr Skulpturen beim Arbeitsamt und der Berufsschule

Anschließend spaziert man weiter zur Kreuzung mit der Kapuzinerstraße und biegt rechts in den schmalen Fußweg, der ins Innere des neuen Arbeitsamts führt. Die Folge der düsteren Höfe im Klinkerbau wird von Georg Seiberts „Trilogie fürs Arbeitsamt“ (1986) aufgelockert, drei Stahlskulpturen, die Bauklötzchen-Variationen in Konkrete Kunst verwandeln. Anschließend geht es die Tumblingerstraße linker Hand entlang, am Schlachthof und an der Volkstheater-Baustelle vorbei. An der Einmündung der Ruppertstraße glänzt der Neubau für die Berufsschule und das Stadtteilkulturzentrum „Luise“. Auf dem weitläufigen Platz vor dem Gebäude ragt ein gekritzeltes Gesicht in den Himmel, krakelig wie eine Kinderzeichnung. Die 15 Meter hohe Stahlrohr-Skulptur „I See a Face. Do you See a Face“ wurde 2020 errichtet, stammt von der Künstlerin Flaka Haliti – und bietet am Ende der Tour beste Gelegenheit, sich hinzusetzen, den Wolken beim Vorüberziehen zuzuschauen – und sich von der Kunst zu erholen.

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