Ausstellung in der Kunsthalle: Verführung im Zauberwald

München – Rau ist diese Waldlandschaft und zugleich in sanften Nebel gehüllt. Winzige Figuren sind im Dickicht auszumachen, mal mit Tornister, mal mit Reisetasche.

Erwin Olaf: Wettersteingebirge als ideale Kulisse

Wie Wanderer, die vom Weg abgekommen sind und in Schockstarre versetzt wurden. Man riecht schon den bösen Zauber. Und wären da nicht die gegenwärtigen Alltäglichkeiten wie Smartphones, Plastikflaschen oder Einkaufstrolleys, man könnte leicht auf die Märchenwälder der Gebrüder Grimm kommen, wo hinter jedem Strauch etwas lauert.

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Erwin Olaf hat wieder konstruiert, das heißt, mit den Mustern gespielt, die in unseren Gehirnen sitzen. Bei ihm ergibt das die fantastischsten Geschichten, und im Wettersteingebirge nahe Garmisch-Partenkirchen scheint der niederländische Fotograf die ideale Kulisse für seine jüngste Serie gefunden zu haben: die Wucht der Berge und der Wälder, die den Menschen ihre Grenzen aufzeigen und zugleich an die Seelenlandschaften der Romantiker anknüpfen. Die Retrospektive in der Kunsthalle München endet mit diesen betörenden, verstörenden Bildern. „Unheimlich schön“ lautet entsprechend der Titel dieser Schau.

Erwin Olaf: In Holland ein Star der Kunstszene

Doch zunächst irritiert die Tatsache, dass Erwin Olaf in Deutschland kaum bekannt ist. In seiner Heimat gehört er zu den Stars der Kunstszene, sein Gesamtwerk hat 2019 weit über 300.000 Besucher ins Den Haager Gemeente Museum gezogen.

von Erwin Olaf Courtesy Galerie Ron Mandos Amsterdam

Das war die bislang erfolgreichste Fotoausstellung des Landes. Und wenn die königliche Familie auf der offiziellen Webseite „holland.com“ richtig gut rauskommen will, steht Erwin Olaf, dieser zum Ritter geschlagene Rebell, hinter der Hasselblad.

Erwin Olaf: Wenn das Unvollkommene schön wird

Mittlerweile ist das eine Ausnahme. Allerdings verdeutlicht die royale Charme-Attacke, weshalb man diesem Lichtbildner so leicht auf den Leim geht. Es ist die perfekte Oberfläche, das hochästhetisch Artifizielle – für Sekunden.

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Dann realisiert man auch schon, dass in der vermeintlichen roten Brosche ein Messer steckt und ein erblondeter „Sisi“-Zombie (1997) auf die Todesursache anspielt. Nichts ist so schön, wie es ausschaut. Stattdessen wird das Unvollkommene schön. Oder zumindest in eine Komposition geführt, von der ein mysteriöser Reiz ausgeht.

Erwin Olafs weibliche Modelle jenseits der 60 haben jedenfalls ihre Üppigkeiten lieben gelernt und werfen sich lasziv in Pose. Eine zur Magersucht tendierende Blonde besitzt ja doch einen hinreißend zarten Teint, und an der Orangenhaut einer aus den Fugen geratenen Über-Elfe saugt sich das Auge fest. Und keineswegs im Sinne des Voyeurs.

Die Technik mag der Autodidakt in der Werbebranche eingesogen habe, Shootings für Louis Vuitton und Levi’s haben ihm seine unabhängige künstlerische Arbeit ermöglicht. Doch der 1959 in Hilversum geborene Erwin Olaf Springveld – so sein eigentlicher Name – will von 08/15-Idealen nichts wissen. Und noch weniger von klassischen Geschlechterrollen.

Erwin Olaf: Ein Auge für die Unsichtbaren

Bei ihm war Diversität lange schon in Serie gegangen, bevor darüber in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. „Jeder Einzelne hat es verdient, gesehen zu werden“, lautet sein Credo. Und er weiß, was das für die „Unsichtbaren“ bedeutet. Selbst homosexuell engagiert er sich bereits in jungen Jahren für Gleichberechtigung und muss dringend provozieren: mit wilden Nachtgestalten und Selbstporträts. Meist nackt und in bizarren Posen.

von Erwin Olaf Courtesy Galerie Ron Mandos Amsterdam

In der Folge „Chessmen“ (1987/ 88) ist dieses fast schon fanatisch-manierierte Arrangieren auf einen albtraumhaften Gipfel geführt. Ein behelmter Kleinwüchsiger trägt wie Atlas den Bauch einer gefesselten Schwangeren auf den Schultern. Ein Beau mit hohen Hacken mutiert durch sein Hirschgeweih zum erotischen Wolpertinger, und das ist noch harmlos. Heinrich Füssli, Hieronymus Bosch und Robert Mapplethorpe feiern hier Hexensabbat. Mindestens.

Erwin Olafs Werk ist ein Ritt durch die Kunstgeschichte

Dagegen sind vis-à-vis die „Ladies Hats“ so schlicht wie humorvoll. Männer tragen Damenhüte. Und man muss unwillkürlich an Rembrandt denken, der sich mit den tollsten Barett-Formationen porträtiert hat. Beim ersten Besuch im Amsterdamer Rijksmuseum war es nicht die „Nachtwache“, die den 12-jährigen Erwin faszinierte. Ihm haben sich sofort die Bildnisse des keineswegs attraktiven Malers mit Knollennase eingeprägt, der sich so oft konterfeite wie kein anderer Künstler.

Erwin Olafs Werk ist ein Ritt durch die Kunstgeschichte. Das beginnt schon bei den minuziös ausgearbeiteten Details, die an Vermeer und überhaupt die Niederländer erinnern. Nichts ist dem Zufall überlassen. Weder bei den Akten noch in den virtuos konzipierten Interieur-Szenen der „Hope“-Serie (2005) mit einer einsamen Hausfrau – Jeff Walls winkt aus der Küchenmaschine – oder eigentümlichen Paarkonstellationen. Manches gerät freilich allzu bedeutungsschwanger wie etwa „The Classroom“ mit einem ergrauten Lehrer, der vor einer Tafel mit Embryonen-Stadien steht, sich aber seiner pubertierenden Schülerin im kurzen Röckchen zudreht.

Erwin Olaf: Oft gefährliche Gratwanderungen

Doch das Gros lässt der Fantasie jede Menge Raum. Die vergeblich Wartenden genauso wie die surrealen 20er-Jahre-Gestalten, die Erwin Olaf in „Berlin“ (2012) in Szene gesetzt hat. Von den Otto-Dix-haft abgetakelten Nachteulen in Clärchens Ballhaus bis zum Harlekin im Stadtbad Neukölln.

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Oft sind das gefährliche Gratwanderungen, der Abgrund hinter einem hübsch drapierten Vorhang kann ziemlich tief sein. Oder auch nicht. Sicher ist nur, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, also alles an Grenzen stößt. Erwin Olaf hat dafür eindringliche Bilder gefunden, die die Ausstellung in der Kunsthalle eröffnen.

Wahnsinn zwischen Raffgier und Naturausbeutung 

Als „Aprilfool“ („Aprilnarr“) mit Clownshut und weißem Gesicht schiebt der Fotokünstler seinen Einkaufswagen durch einen Supermarkt. Das war im Frühjahr 2020.

Und während bei den Beatles der „Narr auf dem Hügel“ wenigstens deppert grinsend in den Sonnenuntergang hinein sinnieren darf, sieht der Aprilnarr nur leer geräumte Regalreihen. Irgendwann steht er desillusioniert vor einer Wand. Ende. Aus. Amen. Feinsinniger kann man den Wahnsinn zwischen Raffgier und Naturausbeutung nicht auf den poetischen Punkt bringen.

„Erwin Olaf. Unheimlich schön“ – bis 26. September täglich von 10 bis 20 Uhr, Katalog (Hatje Cantz Verlag, 240 Seiten, 40 Euro), www.kunsthalle-muc.de

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