Mordkultur im Fernsehen: Was die Deutschen an ihren Krimis lieben

  • US-Amerikaner mögen Comedy und Sitcoms, Südamerikaner lieben Telenovelas und die Deutschen schalten bei Krimis ein.
  • Zwei Experten erklären, weshalb die Mordlust mit unseren ureigenen Trieben zu tun hat.
  • Dazu gehört der Drang zum Miträtseln, die Wahrnehmung von Ermittlern als fiktive Bekannte und die Möglichkeit zum Angstabbau.

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„SOKO Leipzig“, „SOKO Stuttgart“, „Tatort“ aus Münster oder Dresden, „Nord Nord Mord“ oder „Mord mit Aussicht“. Es ist schwer, im Haupt- und Vorabendprogramm der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender einer Leiche zu entgehen.

Doch die aufgetischten Morde scheinen den Deutschen zu schmecken. Insbesondere der „Tatort“ zieht trotz wachsender Konkurrenz von Netflix und anderen Streaming-Diensten immer wieder Millionen Zuschauer vor die Bildschirme.

Selbst beim jungen Publikum ist „Tatort“-Gucken seit einiger Zeit so beliebt, dass Kulturhäuser, in denen ansonsten Kleinkunst auf der Bühne zu sehen ist, am Sonntagabend zum gemeinsamen Krimi-Erlebnis einladen.

Wie wichtig es ist, dass Sendungen diesen Lagerfeuer-Effekt auslösen und damit die ganze Familie vor den Fernseher locken, erklärt die Wissenschaftlerin Eva Stadler mit dem Programmauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender. Die Sender erreichen mit diesen Inhalten ein großes und breites Publikum, sagt die Professorin der Hochschule der Medien in Stuttgart im Gespräch mit unserer Redaktion.

Krimis seien in diesem Zusammenhang der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Während es früher noch TV-Shows wie „Wetten, dass..?“ schafften, ein Millionenpublikum zu erreichen, hätten heute neben Großsportveranstaltungen fast nur noch Krimis dieses Potenzial, erklärt Stadler.

Dramaturgie ist das Geheimrezept

Dabei fallen deutsche Krimis selten durch innovative Formate oder allzu viel Action auf, sondern eher durch biedere Milieustudien in deutschen Großstädten. Aber woher kommt dann der Erfolg?

Das Geheimrezept für die Beliebtheit sei die psychologische Dramaturgie, sagt Stadler. „Die Zuschauer wollen bei der Überführung des Mörders mitraten. Die Deutschen mögen das Zusammensetzen einzelner Puzzleteile, um herauszufinden, wer der Täter ist“, erklärt die Wissenschaftlerin. Wilde Verfolgungsjagden und explodierende Autos wie in amerikanischen Actionstreifen seien da eher fehl am Platz.

Also ist der deutsche TV-Zuschauer eher der Mitrate-Typ? Zumindest wäre er damit nicht allein. Auch die Skandinavier schauen den Ermittlern gern bei der Tätersuche über die Schulter – wenngleich es bei unseren nordischen Nachbarn ein wenig düsterer zugeht.

Etwas weiter entfernt sind die TV-Zuschauer weniger krimiaffin. So bevorzugen die US-Amerikaner Sitcoms und Comedy im Fernsehen. In Mexiko und anderen Staaten Südamerikas lieben die Menschen Telenovelas. Und die Franzosen mögen Dramen.

Ermittler sind fiktive Bekannte

Zurück in die Krimi-Republik Deutschland. Die psychologisch angehauchte Tätersuche ist der eine, die vertrauten Figuren ein anderer Teil des Erfolgs. Bei den einzelnen Serien ermitteln stets die gleichen Charaktere, beim „Tatort“ hat jedes Ermittlerteam seine Eigenheiten.

Beim „Tatort“ aus Münster ist das Besondere das humoristische Zusammenspiel zwischen Boerne und Thiel, in Dresden ist es der Konflikt zwischen dem von der Zeit überholten Kommissar Schnabel und seinen jungen Kolleginnen, etwas ernster ist der Berliner „Tatort“ mit dem brillanten Profiler und Einzelgänger Robert Karow an der Seite von Kommissarin Nina Rubin.

Dass die Ermittler eine wesentliche Rolle beim TV-Erlebnis spielen, erklärt die Medienpsychologie mit der Theorie der parasozialen Interaktion. Der Zuschauer baut quasi eine Beziehung zu den Serienfiguren auf, wodurch das emotionale Erleben beim Krimi-Schauen gesteigert wird. Man verbringt seine Freizeit quasi mit fiktiven Vertrauten, das regelmäßige Einschalten wird zum Ritual.

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Angstabbau durch Krimi-Gucken

Der Göttinger Psychiater Borwin Bandelow dringt noch tiefer in die Köpfe der Zuschauer vor und erklärt das Interesse an Fernsehmorden auf hormoneller Ebene. Seiner Einschätzung nach wenden sich viele Menschen Krimis zu, um gezielt Angst- und Spannungsgefühle zu empfinden, was im Endeffekt zu Entspannung führt.

Zwar sei die Angst selbst kein positives Gefühl, erklärt der Göttinger Uni-Professor, allerdings werden gleichzeitig zu den Angsthormonen auch Endorphine ausgeschüttet, also Wohlfühl- beziehungsweise Glückshormone.

Dieser Effekt war früher für uns Menschen überlebenswichtig. In Kampfsituationen, in denen der Mensch voll mit Stresshormonen vollgepumpt war und Schmerzen empfand, machten die Wohlfühlhormone die Situation etwas angenehmer. „Wenn der Mensch beispielsweise blutete, empfand er die Schmerzen als nicht ganz so schlimm und gab den Kampf deshalb nicht auf. Die Endorphine wirken wie ein Morphium“, erklärt Bandelow.

Beim Krimi-Schauen passiert das Gleiche, nur in abgemilderter Form. Der Zuschauer empfindet Angst, die Glückshormone machen diese Angst ertragbar. Das wichtige für den Entspannungseffekt: Wird der Mörder von der Polizei gefasst, sinkt die Angst, aber die Endorphine bleiben noch eine Zeitlang im Blut. Dadurch entsteht das Entspannungsgefühl nach dem Krimi.

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Zufriedenheit nur mit Happy End

Die Voraussetzung für die Zufriedenheit ist allerdings ein gutes Ende, in dem der Täter gestellt, die Gerechtigkeit wieder hergestellt wird. „Deshalb hat schon Ken Follett gesagt, schreibe niemals einen Krimi ohne Happy End“, sagt der Göttinger Wissenschaftler.

Weil am Ende alles wieder gut wird, lassen sich Krimis auch generell zum Angstabbau nutzen. Egal ob Ängste vor Kriminalität oder Zukunftsängsten – die Verbrechen in den Krimiserien können beruhigend wirken. „Die Zuschauer durchleben ihre Angst, setzen sich damit auseinander und bauen so Ängste ab“, erklärt Professor Bandelow. Das Angstsystem des Menschen unterscheidet ihm zufolge nicht zwischen echter Bedrohung und Fernsehfilmen.

Ob die Deutschen während der Coronakrise gezielt Krimis schauten, um ihre Ängste vor Ansteckung, Jobverlust oder dem Verlust von Angehörigen etwas zu mindern, das könne Bandelow nicht sagen. Was er sich allerdings vorstellen kann: „Wir Menschen sind ständig auf der Suche nach Endorphinen. Weil nun Tanzen, Kino oder gutes Essen in Restaurants nicht möglich waren, könnten Krimis eine Alternative gewesen sein.“

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