"Ich habe Glück, ich kann schlafen – trotz der Albträume"

Erstmals tritt Katja Riemann nicht als Schauspielerin, sondern als Regisseurin in Erscheinung. Mit einer Doku über Moria feiert sie ihr Debüt – und spricht mit t-online über diese besondere Konstellation.

Für die arte-Sendung „Square“ begab sich Katja Riemann in das berühmteste Flüchtlingslager Europas: Moria auf Lesbos. Erstmals führte die Schauspielerin Regie und entschied sich bei ihrem Debüt für eine Doku über eine Filmschule, mitten im Brennpunkt der griechischen Insel.

Im Interview mit t-online spricht die 57-Jährige über das Leid der Menschen vor Ort, erinnert sich an den „von ihr sehr verehrten“ Roger Willemsen und wirft einen Blick zurück auf ihre eigene Kindheit.

t-online: Für „Square“ feierten Sie ihr Regiedebüt, Frau Riemann. Wieso haben Sie das Thema Moria für Ihr Debüt ausgewählt?

Katja Riemann: Ich glaube, es hat mich gewählt, auch wenn das etwas kitschig klingen mag. Als ich im Sommer 2020 auf Lesbos einen Abend mit den Gründern der Filmschule „Refocus media labs“ verbrachte, war es eigentlich ziemlich klar. Wer vermutet schon eine Filmschule in Camp Moria.

Im November 2020 haben Sie mit den Dreharbeiten begonnen. Doch Sie reisen bereits seit über 20 Jahren mit Menschenrechtsorganisationen durch Krisengebiete. Wieviel Ausdauer und Beharrlichkeit braucht man dafür?

Auf einer Skala von 1 bis 10?

Nein, ganz ernsthaft.

Die Ausdauernden und Beharrlichen sind jene Menschen im Feld, die vor Ort sind und die tägliche konkrete Arbeit machen, die partiell auch gefährlich ist, wie man ja selbst hier am Beispiel Lesbos sehen kann: die Brände, die Wutbürger, die Flut, die Camp-Krankheiten wie Krätze. Die Humanitären weltweit leben zwischen den Amplituden des sichtbaren Erfolgs und der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit auf der einen Seite, als auch den Herausforderungen, die sie mit sich bringt und die völlig unvorhergesehen kommen können, wie Naturkatastrophen, gewalttätige Angriffe und Bedrohungen, Menschenrechtsbrüche, mangelnde Unterstützung, Korruption auf der anderen Seite. Zwei Schritte vor, einer zurück. Oder auch ein Schritt vor, zwei zurück. Aber man bewegt sich.

Katja Riemann: Die Schauspielerin begab sich als Regisseurin in das Flüchtlingslager Moria. (Quelle: Arte)

Wenn man einmal damit begonnen hat und in Bewegung ist, kommt ein Aufhören nicht infrage?

Am Ende ist es wohl so. Wenn man einmal mit dieser Arbeit begonnen und zugebissen hat, geht das Loslassen nicht mehr so einfach, worin auch wiederum eine Gefahr liegen kann.

Einer der Studenten sagt im Film, er habe sich vorher „nutzlos“ gefühlt und durch die Arbeit an der Filmschule endlich einen Sinn im Leben entdeckt. Begegnet Ihnen das oft auf Ihren Reisen: Dass Menschen sich als nutz- oder gar wertlos erachten?

Dieser Satz wird von dem 17-jährigen Yaser gesagt, der wahrscheinlich hochbegabt und extrem reflektiert und eloquent ist. Ich glaube, es bedarf der Selbstreflektion, um überhaupt so einen Satz zu sagen. Vielleicht ist es eher die Vorstellung unserer Herkunftsländer, dass Menschen des globalen Südens, sich doch so fühlen müssen, weil sie in Ländern leben, in dem das Leben anders gestaltet wird und die Wirtschaft schlecht läuft und oje, als bei uns im Kapitalismus. Muss man sich nutzlos fühlen, wenn man arm ist? Oder keine Chance auf Bildung hat?

Was sagen die Erfahrungen aus Ihren Reisen?

Ich habe auf meinen Reisen ehrlich gesagt nur Menschen getroffen, die gerade aufgrund der Projekte, an denen sie mitgewirkt haben, ein Selbstwertgefühl aufbauten, weil sie gestalterisch eingriffen in ein Leben, das sonst vielleicht anders verlaufen wäre. Die Sinn- oder Nutzlosigkeit, wie Yaser es nennt, die fühlt man erst später, wenn Sinn und Nutz vorhanden ist – das ist wie mit der Reue.

„Square“: Der 17-jährige Yaser im Gespräch mit Katja Riemann und dem Amerikaner Douglas Herman. (Quelle: Arte)

Die Arbeit an einem Film gibt diesen Menschen Mut und eine Perspektive. Ist das eine Parallele zu Ihrem eigenen Leben? Für das Mädchen aus Weyhe, das in die große Filmwelt und nach Berlin zog und eine schillernde Schauspielkarriere begann?

Hahaha, schillernd, das hört sich gut an – I wish! Nein, ich kann, darf, will und werde hier keine Parallele ziehen. Afghanistan ist derzeit das unsicherste Land der Welt, abgesehen von den Kriegsländern natürlich. Ich bin geboren und aufgewachsen in einem demokratischen Sozialstaat und ja, ich komme vom Dorf, wir waren arm, meine Mutter war Single-Mum mit drei Kindern, aber ich hatte immer Zugang zu Bildung und eine Zukunftsperspektive. Und es sind auch keine Fundamentalisten in unser Haus eingedrungen.

Die Filmschule auf Moria ist komplett abgebrannt. Wie düster ist die Lage vor Ort?

Nun, das war im April 2020, als das OHF Community Center abbrannte, in dem Refocus untergebracht war. Dann sind sie in den Dschungel von Moria gezogen mit ihrer Schule und als es dort brannte, erneut weitergezogen. Ich versuche den Zuschauenden einen Ansatz mit auf den Weg zu geben, der nicht nur die Fliehenden entstigmatisiert, weil sie in meinem Film vor allem als Studierende angesprochen werden und ich versuche der „düsteren Lage“, wie Sie es nennen, die Hoffnung und das Wissen an die Seite zu stellen. Denn das Wissen ist bleibend, Politik temporär. 

„Faschisten“ sollen die Schule abgebrannt haben, heißt es im Film. Fühlt sich der Kampf gegen diese Widrigkeiten manchmal an wie Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen?

Das Wort „Faschisten“ ist nicht von mir, ich würde das Wort in diesem Zusammenhang nicht benutzen, Faschismus wird anders definiert. Ich weiß auch um die Vermutung, wer den Brand ausgelöst hat, aber das führt jetzt zu weit. Bleibt die Frage, wer ist Don Quijote und wer sind die Windmühlen. Ich denke Letzteres ist hier die EU, die Unterstützung, die sie geben könnte, verwehrt. 

Ein sehr schönes Bild zeichnen Sie im Film zum Heimatbegriff. Darin heißt es unter anderem: „Heimat ist die Landschaft, in der man nicht verschwinden würde. Sonst ist alle Landschaft darauf angelegt, uns zu verschlucken (…) wieviel kann man wegnehmen und man nennt es immer noch: meine Heimat.“ Erklären Sie gerne einmal was Sie damit meinen. 

Das freut mich sehr, dass Sie das Zitat nennen, es ist von dem von mir sehr verehrten und viel zu früh verstorbenen Roger Willemsen, aus seinem Text „Heimat“. Mich würde seine Meinung zu der derzeitigen globalen Situation sehr interessieren. Er fehlt. Das Zitat passte perfekt zu dem Moment, als wir durch das abgebrannte Camp laufen und Yaser sagt: „Es fühlt sich komisch an hier zu sein, ich habe hier acht Monate gelebt und ja, es war kein guter Ort zum Leben, aber wenn du solange hier lebst, dann wird es irgendwann zu deinem Zuhause.“ Letztlich hat er genau dasselbe gesagt, wie Roger – das hätte ihm gefallen.

Was bedeutet Heimat für Sie ganz persönlich?

Ich habe meine Wahlheimat in Berlin gefunden. Und in meiner Tochter und meinen Freunden, sie sind es, die mich glücklich machen und mir das Gefühl von Vertrautheit und Aufbewahrtheit geben und ist das nicht letztlich ein Heimatgefühl?

Katja Riemann: Im Flüchtlingslager Moria hat sie die Arbeit einer Filmschule dokumentiert. (Quelle: Arte)

Wie schwer ist es, sich einerseits einzufühlen, den Protagonisten des Films nahezukommen, aber andererseits den Blick aus der Distanz nicht aus dem Auge zu verlieren und damit vielleicht das große Ganze?

Währenddessen habe ich nicht das große Ganze gesehen, alles kann wichtig sein. Dokumentarisches Filmemachen ist vor Ort sehr konkret, man filmt das, was passiert, nicht das, was man möchte, dass es passiert. 

Wie gut schlafen Sie eigentlich nach einem aufwühlenden Tag in einem Flüchtlingslager?

Als ich im letzten Sommer von Yasers Familie zum Essen eingeladen wurde, was einen Zeitpfeiler meines Lebens markiert, da half mir die Möglichkeit das Erlebte aufzuschreiben, die wirbelnden Gefühle auszudrücken. Dieser nächtliche Text wiederum war dann die Vorlage für etwas, dass ich Monate später ausführlich formulierte.

Also schlafen Sie durch?

Ich habe Glück, ich kann schlafen. Auch als ich im Ostkongo während des Krieges war, konnte ich in einem Papphaus schlafen, trotz der Albträume, die sich aus den am Tag gehörten Geschichten von Massenvergewaltigungen formierten. Das scheint sehr ignorant, wenn ich überlege. Andererseits kann man am nächsten Tag wieder energetisch aufstehen und losgehen. Schlaflosigkeit gibt es auch, wenn man den Tag nicht in einem Camp verbracht hat.

Gibt es Bilder, die Sie noch heute verfolgen?

Das Bild, das mich seit Wochen verfolgt, ist eines aus dem beeindruckenden Dokumentarfilm „Seaspiracy“ von Ali und Lucy Tabrizi: ein Haifisch, dem man bei lebendigen Leib die Flossen abschnitt und ihn zurück ins Meer warf, wo er ertrank. Wir müssen den Umgang mit den Tieren dringend überdenken und schleunigst ändern, wenn uns unser Leben lieb ist. 

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Selbst Kinder haben und ständig das Elend anderer Kinder zu sehen. Ist das in irgendeiner Art tröstlich? Im Sinne von: Ich weiß, in welch privilegierter Lage wir leben und bin froh, dass es meiner Familie gut geht?

Nein, ich denke so nicht. Ich sage auch nicht, wie es früher Eltern zu ihren Kindern sagten: iss auf, in Afrika hungern die Kinder. Ich glaube nicht daran, dass wir durch Schuld oder schlechtes Gewissen zu irgendetwas inspiriert werden, das lähmt nur. Ich glaube daran, dass ein Bewusstsein oder das Wissen um Zustände und das Denken darüber, uns zu handelnden Menschen macht und das beginnt immer bei einem selber und in dem Umkreis, in dem man sich bewegt. Und wenn man den Radius erweitern möchte, dann geht es sehr wohl. Ich kenne soviel beeindruckende Menschen, Vereine und Organisationen, die einfach eines Tages mit einer Aktion begonnen haben, nicht überlegend, was da heraus alles entstehen kann. Das liegt in deiner eigenen Hand.

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