München – Natürlich gibt es auch ein paar Haare in der Suppe. Es ist eine typische Münchner Lösung mit drübergestreutem Blattgold, bei der teuer und ohne Risiko eingekauft wird, was sich andernorts doppelt und dreifach bewährt hat. Und die singende Gattin gibt es auch noch dazu, und das nicht einmal gratis.
Fünfjahresvertrag für Sir Simon Rattle
Trotzdem ist die Entscheidung richtig, Simon Rattle als künftigen Chefdirigenten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks zu verpflichten. Gestern gab der Sender bekannt, der 65-Jährige habe am 3. Januar einen Fünfjahresvertrag unterzeichnet. Ab der Konzertsaison 2023/24 wird er die Nachfolge des am 1. Dezember 2019 verstorbenen Mariss Jansons übernehmen.
Über Berlin nach London
Rattle war von 2002 bis 2018 als Nachfolger von Claudio Abbado Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. 2017 übernahm er das London Symphony Orchestra. Diesen Posten wird er aufgeben, aber ehrenhalber „Conductor Emeritus“ bleiben, um die Blamage für das angesehenste britische Orchester etwas zu mildern.
Hatte sein Abschied mit dem Brexit zu tun?
Für britische Stimmen ist es nach ersten Reaktionen offenkundig, dass Rattles Abschied eine ganze Menge mit dem Brexit und der zunehmend unsicheren Lage britischer Orchester zu tun hat. Ohnehin werden Musiker dort befristet von Saison zu Saison engagiert, was zu Nachwuchsproblemen führt. Und Rattle scheint auch darüber verärgert zu sein, dass er mit einem Konzertsaalneubau gelockt wurde, von dem jetzt kaum mehr die Rede ist.
von BR
Mit Rattle gibt es wohl doch einen Neubau im Werksviertel
Für München heißt das umgekehrt, dass der zuletzt gefährdete Neubau im Werksviertel wohl doch kommen wird. Mit Rattle besteht die Chance, dass der Bau (endlich) den Charakter einer Wundertüte verliert und endlich auch inhaltlich gefüllt wird. Denn bei allem, was man gegen Rattle als Dirigenten künstlerisch einwenden mag: Er ist ein geschickter Kommunikator mit starker Ausstrahlung, der sich für Jugendkonzerte nicht zu schade ist und Kartenkäufer auch ins Sendlinger Gasteig-Interim ziehen wird.
Eine Weiterentwicklung für das BR-Symphonieorchester
Aber noch wichtiger ist: Rattle könnte das von Mariss Jansons in bestmöglichem Zustand hinterlassene BR-Symphonieorchester musikalisch und künstlerisch weiterentwickeln. Sein Bruckner mag zwar langweilig sein und sein Brahms auch nicht besonders aufregend. Aber im Unterschied zu seinen Vorgängern interessiert er sich auch für ältere Musik vor Mozart und die neuere nach Richard Strauss. All dies wurde auch bisher auf höchstem Niveau kultiviert, aber es war nie Chefsache.
Das Programm lässt viel erhoffen
Die Richtung zeigen bereits Rattles nächste Programme: Im März soll er unter anderem die Uraufführung eines Werks von Ondøej Adámek, Georg Friedrich Haas‘ monumentale Komposition „in vain“ sowie Musik von Purcell, Haydn, Brahms, Strawinsky und Messiaen dirigieren. Aber auch Traditionalisten dürfen sich freuen, denn Rattles Beethoven ist ausgesprochen aufregend, sein Schumann farbig und eine Vollendung der konzertanten Aufführung von Wagners „Ring des Nibelungen“ ist erst bei der „Walküre angelangt.
Der bekannte Dirigent kann das Orchester vor Einsparungen schützen
Mit Rattle als Chefdirigent bleibt das BR-Symphonieorchester international gefragt. Der außerhalb der Klassikwelt geläufige Name dürfte die Musiker auch eine Zeit lang vor allzu großer Sparwut im Sender schützen. Auch wenn die designierte Intendantin Katja Wildermuth kulturaffin wirkt, hat der scheidende Intendant Ulrich Wilhelm mit seiner Unterschrift eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft vorgenommen.
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Einiges hätte für seinen kanadischen Konkurrenten gesprochen
Der Intendant hat zwar rein formal die Wahl, entschieden wurde aber im Orchester. Als ernstzunehmender Konkurrent für Rattle galt lange der Kanadier Yannick Nézet-Séguin. Auch wenn manches für einen jüngeren Dirigenten gesprochen hätte: Nézet-Séguin wirkt als Chef des faktisch aufgelösten Orchesters der New Yorker Metropolitan Opera in der Krise ausgesprochen rückgratlos. Und es scheint angesichts seiner weiteren Chefposition in Philadelphia auch unwahrscheinlich, dass er ernsthaft für München zur Verfügung stand.
Rattles Liebesweis an das Orchester
Rattle warb zuletzt geradezu um das BR-Symphonieorchester. Vor allem ein sehr kurzfristiger Spontantermin für einen Stream mit einer Mozart-Serenade wirkte als Liebesbeweis. In der aktuellen Pressemitteilung behauptet der designierte Chefdirigent sogar, ein Gastspiel des BR-Symphonieorchesters unter Rafael Kubelik habe „sein Leben verändert“. Damals habe er „eine starke Verbindung zwischen Dirigent und Musikern“ erlebt. „Dieses Konzert wurde für mich zu einer Art Maßstab für etwas, das man als Musiker erreichen möchte“, zitiert der BR den künftigen Chefdirigenten.
Viele Erfolge sind für München nicht neu
Das alles ist fast eine Belastung. Und vieles von dem, was Rattle bei seinen früheren Stationen in Birmingham und Berlin erreicht hat, ist für München nicht neu. Aber Education-Projekte waren beim BR-Symphonieorchester bis zuletzt mehr Initiativen einzelner Musiker und nicht unbedingt des Chefdirigenten.
Simon Rattle: gut, aber auch teuer
Alles was gut ist, pflegt teuer zu sein. Rattle wird ein Jahreseinkommen von etwa einer Million Euro nachgesagt. Und bei Vokalwerken lässt er zugunsten des Familieneinkommens gerne seine Gattin Magdalena Koená mitwirken. Auch wenn heute weniger bezahlt wird als in den Goldenen Jahren vor der Finanzkrise: Das Doppelte von Ulrich Wilhelms Gehalt dürfte drin sein. Im Unterschied zur traditionell geheimen Gage des Chefdirigenten sind die Bezüge des Intendanten bekannt: Sie liegen bei 388 000 Euro jährlich. Viel Geld, gewiss. Aber da wird beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk bisweilen für weniger Nachhaltiges mehr Geld zum Fenster hinausgeworfen. Und ein Simon Rattle strahlt auf die ganze Stadt aus.
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