Tag zwei auf der Berliner Fashion Week: Kilian Kerner und der Sturm der Liebe

Seit Januar 2020 hat die Corona-Pandemie auch die Modebranche in Schockstarre versetzt. Aber in diesem Spätsommer flanieren wieder Models, Blogger, Trittbrettfahrer und Fashion-Junkies durch die Straßen von Berlin-Mitte. Sie schlürfen Matcha-Tees und hoffen auf den Anruf eines Scouting-Assistenten. Dennoch: Viele Shows gibt es nicht, man lässt es langsam angehen in der 3G-Corona-Phase.

Ist man dann erst einmal drin im Kraftwerk im Zentrum von Berlin wirkt alles wie immer: sehr futuristisch und gleichzeitig wie ein Bunker aus den 60er-Jahren. Künstlerisch betrachtet ein sehr interessanter Ort. Inspirierend, wenn man nicht ausgerechnet in Obstgärten, Sonnenuntergängen oder Strandpanoramen seine Kreativität findet.

Eines gibt es hier nämlich nirgendwo: Tageslicht. Man fühlt sich immer ein bisschen wie 300 Meter unter der Erde. Das kann mitunter deprimierend wirken. Vor allem, wenn die Mode grausam ist, für die man sich diesem dunklen Fabrikambiente stellt.

Andererseits fühlt man sich irgendwie sicher, vor allem vor dem Coronavirus. Alles ist abgeschottet. Alle sind geimpft, genesen oder getestet. Alle tragen Masken. An jeder Ecke lauert ein Hygiene Officer und prüft, ob man akkurat Abstand hält. Ständig muss man sein Impfzertifikat vorzeigen. Wenn Bill Gates uns endlich 5G-Chips zwangsimplantiert hätte, würde das alles schneller gehen.

Dieter Bohlens Polohemden (sind nicht da)

Oben im Backstage-Bereich ist es dann aber wieder fast so schön wie früher. Die ruhelose Hektik, die man vor zwei Jahren noch verflucht hat, die dann aber doch irgendwie fehlte, als sie weg war, wirkt plötzlich angenehm beruhigend. Alte Gesichter und neue Freunde. Ein bisschen wie Klassenfahrt, nur dass alle volljährig sind.

Und die Mode. Ja, die Mode. Tag zwei der Fashion Week Berlin ist ein Glücksfall. Mit Kilian Kerner zeigt ein junger Designer seine neue Kollektion „Reset“, bei dem jedes einzelne Outfit ein Treffer ist. Das hat man nicht oft. Vor allem in Berlin. Wenn man in Paris im Palais de Tokyo eine Show von Dries van Noten sieht oder im Grand Palais ein Chanel-De­fi­lee, ist das stets ein solches Spektakel, dass es beinahe egal wirkt, wie gut die neuen Kreationen sind. Natürlich sind sie trotzdem gut, Weltklasse womöglich, aber es ist ja auch Paris. Die Hauptstadt der Mode.

Berlin, für die Erkenntnis muss man nicht Anna Wintour sein, ist nicht die Hauptstadt der Mode. Durchaus regelmäßig gab es auf den vergangenen Modewochen ziemlich absurde Kreationen zu, naja, bestaunen. Werke, die zuweilen weniger Haute Couture Potenzial hatten, als Dieter Bohlens Polohemden. Ich habe Glück, denn heute bleibt die Ernüchterung aus. Durch die spartanische Industriekälte des Kraftwerks zieht sich ein Laufsteg aus Beton, der heute zunächst von Fassbender und dann von Kilian Kerner bespielt wird. Fassbender zeigt einen mediterranen Cool-Business-Look als eine Hommage an Ibiza. In der Kollektion wird sehr viel veganes Leder verwendet – ich bin also instant Fan.

Kilian Kerner ist nicht der Sohn von Johannes B.

Noch sensationeller wird es dann bei Kilian Kerner. Nicht nur, dass mir endlich der gestern schon sehnsüchtig herbeigewünschte Riccardo Simonetti in die Arme läuft. Nein, auch Annabelle Mandeng ist da und mein persönliches Herzensprojekt dieses Sommers läuft den Final Walk: Der Lovestorm.

Eine Art Aktivismus-Kunst-Performance-Community, die meine liebe Freundin Mia Florentine Weiss erdacht und die wir gemeinsam mit Leben gefüllt haben. Wir möchten alle Wahlberechtigten Menschen in Deutschland auffordern und motivieren, eine demokratische Partei zu wählen. Demut vor dem Privileg zu haben, frei wählen zu können. Das ist nicht überall so. Selbstverständlich rufen wir nicht im Namen einer bestimmten Partei auf. Das gesamte demokratische Spektrum ist uns recht. Hauptsache nicht Nichtwähler sein. Und eine Partei, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, sollte es dann vielleicht doch sein. Aber sonst: LoveVote!

Mit Lena und Leni – Berliner Modewoche startet erstmals im September

Kilian Kerner teilt diesen Gedanken glücklicherweise und schickt seine Models in seinen traumhaften Kreationen zum Final Walk für eine Demo auf den Catwalk. Alle Models tragen „LoveStorm“ oder „LoveVote“ Schilder – ein fantastisches Bild. Insgesamt läuft es dieses Jahr sehr gut für Kilian Kerner, wie er mir vor der Show verrät. Er hat sein persönliches Glück gefunden. Auch bei „Germany’s Next Topmodel“ war er dieses Jahr wieder prominent vertreten. Sie erinnern sich vielleicht. In einem legendären Casting für seine Show im Januar wählte er Curvy-Model Dascha aus. Ungewöhnlich und mutig, auch wenn ein Mädchen, das nicht in Größe 32 passt, eigentlich so langsam keine besondere Erwähnung auf dem Laufsteg mehr finden sollte.

Kilian Kerner jedenfalls bestätigt dieser Tage, dass er seine Entscheidung für Dascha nicht aus taktischen Gründen gefällt hat, um ein bisschen in der Diversity- und Body-Empowerment-Bubble zu punkten. Auch heute, abseits von GNTM und ohne Heidi Klum in der Nähe, gehört Dascha zu seinem Model-Lineup. Genau wie Soulin Omar, die Drittplatzierte des GNTM-Jahrgangs 2021, und Ashley Amegan, die ebenfalls für das Finale auserkoren war – ihren Platz jedoch freiwillig aufgab. Für Kilian Kerner jedoch läuft sie wieder. Mit Romina und Liliana in der Front Row ist die Kilian Kerner Show mit LoveStorm Finale beinahe eine Art GNTM Familientreffen. Nur die Kaulitzbrüder sehe ich nirgendwo, aber die sind ja auch immer so unscheinbar gekleidet, vielleicht habe ich sie auch nur übersehen.

Im kleinen Keis

Kilian Kerner jedenfalls überzeugt auf ganzer Linie. Ebenfalls in mein Herz hat sich heute Marc Cain gespielt. Das Modehaus aus Bodelshausen ist traditionell ein Highlight im Berliner Fashion Week Showzirkus. Ich durfte schon legendären Marc Cain Shows beiwohnen. In der U-Bahn-Station am Potsdamer Platz zum Beispiel. Oder in einem abgelegenen Industriehafen. In diesen Pandemie-Zeiten verzichtet auch Marc Cain auf den ganz großen Aufschlag und hunderte VIP-Gäste, sondern zeigt die neue Kollektion als Vernissage in ganz kleinem Rahmen. Darüber werde ich morgen berichten. Heute aber habe ich mir bereits mein Red Carpet Outfit bei Marc Cain ausgewählt und dabei festgestellt: Die Kollektionen von Marc Cain werden immer veganer. So gibt es inzwischen beispielsweise zahlreiche wunderbare Pieces aus Lederimitat. Großer Applaus dafür von meiner Seite.

Am Abend geht es kulturell hochklassig weiter. In der Julia Stoschek Collection an der Leipziger Straße besuche ich gemeinsam mit einigen wundervollen Frauen in intimem Kreis die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Ausstellung „A FIRE IN MY BELLY“. Ich möchte keine Worte über die in erster Linie aus gleichsam faszinierenden wie aber auch aufrüttelnden Videoinstallationen bestehende Sammlung verlieren. Ich bin viel zu wenig kunsthistorisch bewandert, um der beeindruckenden Wirkung der Kunstwerke auch nur annähernd gerecht zu werden. Nur so viel: Es lohnt sich. Das finden unter anderen auch die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung, Doro Bär oder die Juvia-Gründerin Judith Dommermuth, mit denen ich den Abend ausklingen lassen darf. Frau Bär hat mit der Fashion Week nicht direkt etwas zu tun, ist aber modisch absolut auf der Höhe der Zeit und noch dazu eine äußerst angenehme Gesprächspartnerin. Und dass Judith Dommermuth als ehemaliges Model und heutige Designerin eine Affinität zur Modebranche hat, ist ein so genannter No Brainer.

Morgen Kinder wird´s was geben

Neben Marc Cain erwartet mich morgen dann auch noch die Show von Marcel Ostertag, die ebenfalls seit Jahren ein Must See der Fashion Week ist. Ostertag hat zuletzt auch auf der Modewoche in New York gezeigt, bleibt aber auch Berlin treu. Seinen Laufsteg hat er nicht im Kraftwerk aufgebaut, das man übrigens auch als Heimat des Techno-Clubs „Tresor“ kennt. Wo genau Marcel Ostertags Show stattfindet, das verrate ich erst morgen, denn sonst mache ich die Location am Ende noch versehentlich zu einer Pilgerstädte für Fashion Week Touristen auf der Suche nach einem Selfie mit einem der zahlreichen Prominenten, die sich traditionell bei Marcel Ostertag die Klinke in die Hand geben.

Sie sehen also, es wird nicht langweilig im modeverrückten Berlin. Und so flaniere ich dann also am späten Dienstagabend nach einem Tag voller durchaus unvergesslicher Momente durch den Bergmannkiez. Hier, nur ein paar Minuten mit dem e-Roller vom Kraftwerk entfernt, interessiert man sich nur wenig für die Modetrends der Fashion Week. Es geht nicht in erster Linie um Ästhetik, sondern mehr um die Kulinarik der Straße. Wie oft stand ich schon zum Ausgleich von Champagner-Empfängen in imposanten Räumlichkeiten während der Fashion Week am Ende der Nacht am Mehringdamm, um bei Curry34 eine vegane Wurst zu essen. Ich kann es nicht zählen. Irgendwie gehören diese Gegensätze aber zu Berlin und vielleicht sind es gerade diese beinahe surreal unterschiedlichen Gesichter der Stadt, die Berlin so inspirierend machen. Nicht zuletzt auch für die Modebranche und die vielen großen Designer-Talente hier. Mehr von diesen Talenten gibt es eventuell bereits schon morgen. Ich jedenfalls werde berichten. Bis dann!

"Vacation on the Moon" eröffnet Fashion Week

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