Simon Stone über seinen Film ‚Die Ausgrabung‘: Was verborgen bleibt

München – Im Sommer 2019 hatte Simon Stone mit einem Teil des Resi-Ensembles die Proben zu einer gemeinsamen Stückentwicklung begonnen. Mit Stones Inszenierung sollte am 18. Oktober die erste Saison unter dem neuen Intendanten Andreas Beck am Bayerischen Staatsschauspiel eröffnet werden. Doch es kam anders: Stone bekam die Chance, ein seit Jahren geplantes Filmprojekt unter dem Dach von Netflix zu verwirklichen, weshalb er das Theaterprojekt kurzfristig absagen musste.

Netflix-Film „Die Ausgrabung“ basiert auf realen Ereignissen

„The Dig / Die Ausgrabung“ basiert auf einem Roman des britischen Autors John Preston, der darin reale Ereignisse verarbeitet: Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs beauftragt Edith Pretty den Archäologen Basil Brown, auf ihrem Grundstück eine Gruppe von Grabhügeln zu untersuchen. Bei seiner Ausgrabung entdeckt Brown, dass sich unter einem Hügel ein angelsächsisches Schiff aus dem 7. Jahrhundert befindet.

Stone drehte den Film in der Nähe der tatsächlichen Ausgrabungsstätte Sutton Hoo im englischen Suffolk. Schon seit einiger Zeit ist Simon Stone aber nach München zurückgekehrt, wo er mit seiner Frau lebt, die als Dramaturgin am Residenztheater arbeitet. Derzeit packt er erneut mit einem Teil des Resi-Ensembles ein gemeinsames Projekt an: ein neues, das auf Stücken von Ödön von Horváth basiert.

Simon Stone: So zeigt sich der Mikrokosmos persönlicher Beziehungen

AZ: Mr. Stone, interessieren Sie sich für alte Dinge?
SIMON STONE: Mich hat schon immer die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart als Sujet für meine Arbeit fasziniert. Im Theater übersetze ich Stücke der Vergangenheit in die Gegenwart der Zuschauer; in „Der Ausgrabung“ transportiere ich nun die Zuschauer in die Vergangenheit. Beides sind Wege, um ein Artefakt an die Oberfläche zu bringen, um einen verlorenen Moment aufleben zu lassen und etwas Zeitloses in der Conditio humana zu entdecken.

von Barbara Gindl/APA/dpa

Das Ausgraben im Film kann man nun auch in Bezug auf verschüttete Gefühle verstehen.
Ja, ich fand es interessant, einen „freudianischen“ Film zu drehen. Es gibt ein „verlorenes Objekt“, das zurückgelassen wurde; Leichen, die unter der Erde vergraben liegen; darüber der weite Himmel. Die Menschen wissen nicht, dass unter ihren Füßen jeder Zentimeter Boden von Geschichte erfüllt ist und beginnen zu graben. Dabei zeigt sich auch der Mikrokosmos ihrer persönlichen Beziehungen.

Aus den visuellen Vorstellungen des Genres „Kostümfilm“ ausbrechen

Die Naturaufnahmen sind sehr schön, die Bildgestaltung erinnert ein wenig an Terrence Malick. Wie haben Sie mit Ihrem Kameramann Mike Eley zusammengearbeitet?
Als ich 17 Jahre alt war, habe ich Mikes ersten Spielfilm gesehen, den er mit Ken Loach gedreht hat, „The Navigators – Geschichten auf den Gleisen“ von 2001. Schon damals hat mich die Schönheit seiner Bildgestaltung beeindruckt, die von seiner genauen Beobachtungsgabe herrührt. Mike hat seine Karriere als Kameramann für Dokumentarfilme begonnen, er drehte in Kriegszonen, filmte politische Aufstände. In den Spielfilmen, die er dreht, bewegt sich die Bildgestaltung von einer völlig ungekünstelten Alltäglichkeit zu einer plötzlichen Poesie, wie ich es nur selten in Filmen entdecke.

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Für einen Kostümfilm ist eine solche Poesie eher ungewöhnlich.
Wir sind von britischen Kostümfilmen ein sehr kontrolliertes Framing gewohnt. Wenn die Handlung an Fahrt gewinnt und die Energie sich verändert, passiert das mit einer eleganten Kamerafahrt oder Aufnahmen aus der Vogelperspektive. So soll die Entwicklung der Hauptfigur gespiegelt werden: wie er oder sie versucht, aus den sozialen Codes von Klasse und Geschlecht auszubrechen. Wir wollten aus diesen visuellen Vorstellungen des Genres „Kostümfilm“ ausbrechen und eine andere Schönheit finden. Das haben wir dadurch erreicht, indem wir gerade nicht mit dem Team diskutiert haben, was genau als Nächstes passieren soll. Die Schauspieler kannten ihren Text, aber wir haben nicht noch mal vor den Szenen geprobt. Oft haben wir den ersten oder zweiten Take genommen. Und ja: Einen Sonnenuntergang muss man erwischen! Du musst hinrennen, um zum richtigen Zeitpunkt da zu sein. Darin liegt vermutlich auch die Ähnlichkeit zur Art und Weise, wie Terrence Malick seine Filme dreht.

Ralph Fiennes in der Hauptrolle des Netflix-Dramas

Die Figur, die Ralph Fiennes spielt, wirkt aber nicht gerade spontan hin improvisiert. Er spielt überzeugend einen zurückhaltenden, handwerklich zupackenden Mann aus der Arbeiterklasse.
Wir haben an seiner Figur und ihrem Akzent monatelang gearbeitet. Ralph hat sich sehr viele Mühe in der Vorbereitung gemacht: Er hat in der Region, in der Basil Brown lebte, ausführlich Recherchen betrieben, hat mit den Leuten aus der damaligen Zeit, den Männern in den Pubs geredet. Ralph kommt selbst aus Ipswich, was nicht so weit entfernt von der Stadt Woodbridge liegt, in deren Nähe die Ausgrabungsstätte Sutton Hoo liegt. Er hat seine Jugend in der Gegend verbracht, arbeitete auf den Farmen und konnte auf bestimmte Erinnerungen zurückgreifen, gerade, was die Menschen in dieser Gegend, ihre stoische Art angeht. Ich fühlte mich an meinen Großvater erinnert, der ähnlich wie Basil Brown frühzeitig die Schule verließ und dann im Zweiten Weltkrieg kämpfte, wobei er vor und nach dem Krieg als Gärtner arbeitete. Unser Dialekt-Coach meinte auch, dass der Dialekt, den die Leute in Suffolk sprechen, am ehesten dem australischen Englisch ähnelt. Es gibt in der Region einige Schaffarmer, die nach Australien auswanderten – es gibt da eine interessante Verbindung.

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Basil Brown bekam lange Jahre nicht die angemessene Anerkennung für seinen Fund. „The Dig“ holt das nach. Dass Sie selbst diesen Film drehen konnten, ist letztlich Netflix zu verdanken?
Ja. Zunächst hatten wir Amazon als Produktionspartner an unserer Seite, aber sie sind fünf Wochen vor dem Hauptdreh plötzlich ausgestiegen. Netflix hat uns dann wirklich gerettet. Die Dreharbeiten mussten aber wegen diverser Umstellungen vom Mai 2019 in den Oktober verschoben werden.

Man hört immer mal wieder, dass Netflix einen gewissen Zeitdruck auf seine Produktionen ausübt.
Das habe ich nicht so erlebt. Netflix hat uns wirklich von Anfang an stark unterstützt. Die Produzenten sind zum großen Teil jung, jeder kennt sich wirklich sehr gut im Bereich Film aus. Sie schätzen Kino als Kunstform und haben ein großes Interesse daran, gute Filme zu produzieren. Der Vorteil bei der Zusammenarbeit mit Netflix ist auch, dass sie so viele Inhalte produzieren, dass der Druck auf ein einzelnes Projekt nicht so hoch ist. Ich habe mich da sehr respektiert gefühlt. Wenn sie Einwände hatten, waren diese meist berechtigt und ich konnte selbst eine andere Lösung finden.

Simon Stone inszeniert erneut am Residenztheater in München

Jetzt proben Sie gerade mit dem Ensemble des Residenztheaters ein Stück und holen damit im Grunde eine Inszenierung nach. Haben Sie sich mit dem Intendanten Andreas Beck ausgesöhnt?
Andreas und mich verbindet eine lange Arbeitsbeziehung, wir schätzen uns sehr und es ist uns beiden wichtig, diese Beziehung aufrecht zu erhalten. Er hat auch meine Situation damals verstanden. Der Filmbereich hat nun mal seine eigene Ökonomie, die Vorbereitungen dauern oft lange und sind sehr ausführlich. Dass es hinsichtlich der Dreharbeiten zu Verschiebungen kommt, ist nicht außergewöhnlich, man hört das sehr oft. Ironischerweise muss man auch sagen, dass wir das Theaterstück, das wir damals planten, wegen der Pandemie gar nicht so oft hätten spielen können.

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Sie haben das Sujet gewechselt und entwickeln mit dem Ensemble jetzt ein Projekt, das auf den Werken von Ödön von Horváth gründet.
Ich habe Horváths Stücke zum ersten Mal gelesen, als ich um die achtzehn Jahre alt war. Ich fand, dass seine Werke faszinierend und sehr schön geschrieben sind, aber es war das Jahr 2002 und ich lebte in einer westlichen Gesellschaft, die sich die finanziellen Notstände und die damit verbundene Verzweiflung, unter der seine Charaktere leiden, nicht vorstellen konnte – noch den wachsenden Einfluss rechter politischer Kräfte. Es fühlte sich eigentlich so an, als ob wir das alles hinter uns gelassen hätten. Aber leider sind wir jetzt in einer Situation, die der von damals unheimlich ähnelt. Die Pandemie hat bei vielen bewirkt, dass sie gar nicht mehr wissen, wie sie die nächste Miete zahlen sollen. Dass das zu einer ganz durchschnittlichen Erfahrung werden könnte, wäre vor einem Jahr noch undenkbar gewesen. Plötzlich ist Horváth wieder sehr relevant. Es ist sein Figurenkosmos, von dem wir uns jetzt bei den Proben inspirieren lassen. Wir suchen und finden Horváth in unserer Welt.

„Die Ausgrabung“ ist ab Freitag abrufbar auf Netflix. Die Uraufführung von „Unsere Zeit“ im Residenztheater war für den 20. Februar geplant und wird nun nach Ende des Lockdowns stattfinden.

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