Roman ‚Identitti‘ von Mithu Sanyal: Ist Identität nur ein Konstrukt?

Eben war Saraswati noch der Star aller Debatten über Postkolonialismus und Identität. Sie hat schon mal – zu didaktischen Zwecken – weiße Studierende aus ihrer Lehrveranstaltung gewiesen. Dann kommt heraus, dass die Professorin der Uni Düsseldorf gar keine echte Inderin ist. Sie heißt in Wirklichkeit Sarah Vera Thielmann und stammt aus Karlsruhe. Indisch ist allerdings der von ihr von den Eltern adoptierte Bruder, mit dem sie eine wechselseitige Hassliebe verbindet.

Das Leiden unter einer Halb-und Halb-Existenz

Dieser dramatische Coup, mit dem der Roman „Identitti“ von Mithu Sanyal beginnt, mag dem identitätspolitisch interessierten Leser aus den Medien bekannt vorkommen. Aber das verschweigt die im Rheinland geborenen Kulturwissenschaftlerin und Autorin nicht: Ihr Roman lehnt sich an Fälle wie den der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal an, die als Weiße geboren wurde und sich lange für eine Schwarze ausgegeben hat.

Das könnte die beliebte Kritik auf den Plan rufen, solche Debatten seinen aus den USA importiert und hätten mit der deutschen Realität wenig zu tun. Dem widerspricht das Buch sehr deutlich: Die Geschichten der Studierenden aus Saraswatis Seminar machen deutlich, wie sehr alle Deutschen mit Migrationshintergrund darunter leiden, eine Halb-und-Halb-Existenz führen zu müssen, weil sie weder hier noch in der Heimat ihrer Eltern wirklich dazugehören.

Mehrere Erzählebenen – auch durch Tweets

Erzählt wird die Aufarbeitung des Skandals durch Saraswatis Lieblingstudentin Nivedita, die Tochter eines Inders und einer Deutschen aus Düsseldorf-Oberbilk. Die Armut an äußerer Handlung kompensiert die Autorin virtuos durch eine zweite Ebene mit Tweets und Facebooknachrichten, die nicht durchweg erfunden sind: Mit bekannten Namen aus Journalismus, Wissenschaft und Politik gezeichnete Beiträge sind „Spenden“, wie es die Autorin im Nachwort nennt. Und auf einer dritten Ebene meldet sich immer wieder einmal die erotisch wie geistig sehr liberal denkende indische Göttin Kali zu Wort.

Es ist ein großer Vorzug dieses Buchs, das Sanyal über das Thema Selbstbestimmung und Sichtbarkeit (post-)migrantischer Positionen nicht wie so oft verbittert, schlecht gelaunt und in schriller Lautstärke schreibt, sondern in einem eher ironischen Tonfall. Auch das Indische ist dabei hilfreich. Es ist dank Hesses „Siddharta“, dem „Copyright auf Spiritualität“ und den begabten Programmierern des Subkontinents der „Joker unter den Migrationskarten“, wie die Autorin schreibt. „Natürlich gab es Diskriminierung, aber wenn Nivedita diskriminiert wurde, dann als Nicht-Deutsche oder als Nicht-Weiße, oder in Verwechslung ihrer Hautfarbe mit einer Religion als Muslima, jedoch niemals als Inderin.“ Und hilfreich dabei ist auch, dass das Buch im Uni-Milieu spielt, das seine Selbstüberschätzung mit der zumindest gelegentlichen Reflexion über die eigene Situation verbindet.

Auch Shitstorms sind ein Thema in „Identitti“

Ganz nebenbei geht es auch um Shitstorms. „Der Deal mit dem Internet war, dass Nivedita für jede Person, die sie liebte, eine bekam, die sie hasste und die das lautstark verkündete, worauf ihr dann mehr Leute aus Solidarität folgten und mehr Leute sie aus Solidarität beschimpften“, heißt es einmal sehr treffend zur Dynamik von Debatten im Internet.

Mithu Sanyal sympathisiert mit der Position Saraswatis, dass Identität ein Konstrukt ist. Das Buch liefert in seinen Theoriedebatten auch Argumente dafür, dass man sich selbst als Ruhrgebietler mit polnischen Vorfahren oder als Bayer im Hofbräuhaus in Deutschland fremd fühlen darf. Und nicht nur die Hautfarbe, auch das Geschlecht ist fluide. „Identitti“ ist – ein anderes als diese abschreckende Formulierung gibt es dafür leider nicht – ein gelehrter, klug geschriebener Roman, der aktuelle Fragen aufgreift und die einschlägigen Diskurse von Frantz Fanon bis Mark Terkessidis so prägnant wie unterhaltsam zusammenfasst.

Darüber kann jeder aufgeklärte Zeitgenosse angesichts der Bedeutung der Debatte um Rassismus, Postkolonialismus eigentlich jeder nicht genug wissen. Und ganz zuletzt lässt die Autorin geschickt die akademische Bubble platzen. Das Buch endet mit einem Sprung in die deutsche Realität, die sehr kalt werden kann.

Mithu Sanyal: „Identitti“ (Hanser, 432 Seiten, 22 Euro). Die Autorin stellt ihr Buch am Donnerstag um 20 Uhr in einem Livestream des Münchner Literaturhauses vor. Buchung bis 60 Minuten vor Beginn über literaturhaus-muenchen.de

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