Nach 50 Jahren muss alles raus – unveröffentlichte Aufnahmen von Bob Dylan

Fangen die Feierlichkeiten zum runden Geburtstag jetzt schon an? Bob Dylan wird im Mai 80 Jahre alt, und da steht natürlich einiges zu erwarten: Bücher, Bildbände, Platten und was sich zum Jubeltag sonst noch gut bewerben lässt. Dass am Donnerstag die Dreifach-CD „Bob Dylan – 1970“ erscheint, folgt allerdings primär einer anderen Logik.

Dylans Plattenfirma räumt das Archiv aus

Sie ist Teil einer Reihe, die gleichermaßen treffend als „50th Anniversary Collection“ oder „Copyright Extension Collection“ bezeichnet wird. Diese CDs enthalten jeweils Aufnahmen, die Dylan vor genau einem halben Jahrhundert gemacht, aber zuvor nicht veröffentlicht hat. Wieso sie jeweils genau 50 Jahren später erscheinen? Da läuft in der EU der Urheberschutz aus, die Rechte an den Aufnahmen würden gemeinfrei werden. Um das zu verhindern, veröffentlicht Bob Dylans Plattenfirma jeweils pünktlich zum Jubiläum sämtliche Aufnahmen, die noch in Archiven rumliegen: Alles muss raus.

Bislang sind auf diesem Weg Aufnahmen der Jahre 1962, 1963, 1964 und 1969 erschienen – für die Jahre dazwischen war das nicht nötig, weil bereits jeder Ton veröffentlicht war, den Dylan in diesen Jahren sang und spielte. Die 74 Aufnahmen von 1970 erschienen im letzten Dezember, wie stets zunächst in einer Kleinstauflage von wenigen hundert Exemplaren – der juristische Zweck war damit erfüllt. Aber weil die Nachfrage der Fans laut Plattenfirma groß war, erscheint „Bob Dylan – 1970“ jetzt in größerem Rahmen.

Altbekannte Songs in alternativen Versionen

Aber lohnt sich das für den Hörer? Wie bei den anderen „Copyright Extension“-Samplern bestehen die CDs zu großen Teilen aus alternativen Aufnahmen altbekannter Stücke. „Sign On The Window“ ist gleich viermal zu hören, „Went To See The Gipsy“ fünfmal, und „If Not For You“ acht Mal. Allerdings waren schon zuvor drei Versionen erhältlich – naheliegenderweise die besten. Mit diesen nunmehr elf offiziellen Versionen, die sich teilweise stark ähneln, dürfte auch der anspruchsvollste Dylanologe zufriedengestellt sein.

Beworben wird das Album mit einem „Special Guest“. Auf den CDs ist erstmals die komplette Session vom Mai 1970 zu hören, bei der Dylan mit einem Kumpel jammte: George Harrison. Doch das ist leider nicht halb so spannend, wie es auf den ersten Blick erscheint (und Ende der Achtziger mit den Travelling Wilburys werden sollte): Die beiden Superstars spielten sich gutgelaunt und ohne allzu viel Inspiration durch Songs, die ihnen in den Sinn kamen, darunter frühere Dylan-Lieder und Favoriten aus ihrer Jugendzeit in den Fünfzigern wie „I Met Him On A Sunday (Ronde-Ronde)“ von den Shirelles, „All I Have To Do Is Dream“ von den Everly Brothers oder „Matchbox“ von Carl Perkins.

Authentische Jam-Session

Dylan weiß öfter mal bei den Texten nicht weiter, etwa bei Sam Cookes „Cupid“, Harrison hält sich an der Gitarre sehr zurück, und die Rhythm Section, die sie begleitet, muss sich oft in die Songs tasten – was gar nicht so leicht ist, wenn Dylan „Just Like Tom Thumb’s Blues“ in einem ganz anderen Feeling spielt als auf der Originalaufnahme und ständig Takte verkürzt. Man kann als Hörer also hautnah erleben, wie es klingt, wenn Weltstars und Session-Asse drauflos jammen. Andererseits: Wie oft will man Dylans Country-Version von „Yesterday“ hören, wenn die Band das Stück nicht drauf hat?

Auch manch andere Stücke und Songframente wird der Hörer beim zweiten Durchlauf gern überspringen. Und doch hat diese Kompilation für Fans ihren Reiz. Denn sie bietet einen interessanten Einblick in Dylans rätselhaftes Schaffensjahr 1970. Da veröffentlichte er im Juni das Doppelalbum „Self Portrait“, auf dem er weitgehend Cover-Versionen spielte. Er wollte damit nach Selbstauskunft seine Fans vor den Kopf stoßen – die allgemeine Vergötterung war ihm einfach zu viel geworden. Und der Plan ging auf: Die Fans hassten Uralt-Schnulzen wie „Blue Moon“ oder „I Forgot More Than You’ll Ever Know“, die Dylan mit öliger Stimme sang und mit üppigem Zuckerguss samt Orchester verzierte. In einem gruseligen Cover von „The Boxer“ sang er im Duett mit sich selbst. Da ging leicht unter, dass auf dem Album auch sehr gute Aufnahmen waren. Der damalige Rockkritik-Papst Greil Marcus zürnte: „What is this Shit?“.

Nur vier Monate später veröffentlichte Dylan das fabelhafte „New Morning“: Darauf waren wieder nur eigene Kompositionen zu hören, seine Stimme war durchgängig rau und nasal wie früher, und nicht zuletzt wegen des Titels schien das Album eine reuevolle Rückkehr zur alten Form zu sein. Diese Lesart aber war nicht ganz zutreffend, und das kann man auf „Bob Dylan – 1970“ chronologisch verfolgen: Die Sessions zu „New Morning“ begannen nämlich schon viele Wochen, bevor „Self Portrait“ veröffentlicht und verrissen wurde. Bei diesen Sessions nahm Dylan großartige Nummern auf, die man hier in schönen alternativen Versionen hören kann, etwa „Father Of Night“ oder den Titelsong „New Morning“.

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Mit dabei sind auch viele Coverversionen

Aber darunter waren wie auf „Self Portrait“ auch viele Coverversionen: der Countryklassiker „Long Black Veil“, den Dylan mit Rockgroove spielt, der fröhliche, poppige Harry Belafonte-Song „Jamaica Farewell“ oder der hörenswerte Cajun-Standard „Alligator Man“, den Dylan drei mal hintereinander versuchte, mal rockiger, mal im Country-Stil. Man hört sie hier alle zum ersten Mal. Auf „Bob Dylan – 1970“ folgt man also einem Künstler, der weiter wild umherexperimentierte, dem Songwriter-König, der tolle neue Stücke parat hatte und dennoch offenbar darüber nachdachte, weiter die Lieder anderer zu singen.

Zugleich sind auf „Bob Dylan – 1970“ viele Aufnahmen der „Self-Portrait“-Sessions zu hören, die deutlich stärker sind als vieles, was auf dem vielgeschmähten Album landete: das seelenwarme Traditional „Come All You Fair and Tender Ladies“ mitsamt Gospel-Backgroundsängerinnen, „Thirsty Boots“ von Songwriter-Kollege Eric Andersen oder der launige Carter Family-Song „Little Moses“. Dylan klang hier viel mehr nach sich selbst als auf weiten Teilen von „Self-Portrait“. Im Ergebnis unterscheiden sich dieses Album und „New Morning“ extrem, aber das lag eben nur an der Auswahl der Stücke und Versionen, die Dylan letztlich traf. Die Musik der Sessions lag oft erstaunlich nah beieinander.

„Bob Dylan – 1970“ (erschienen bei Sony, 3 CDs)

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