Am 3. Januar 1521 wurde Martin Luther mit der Bannbulle „Decet Romanum Pontificem“ von Papst Leo X. exkommuniziert. Dreieinhalb Monate später stand Luther vor Kaiser Karl V. und dem Reichstag zu Worms, um seine Position zu erläutern und zu verteidigen. Luther hatte sich darauf vorbereitet, dem vor den im dortigen Bischofshof versammelten Fürsten und Reichsständen in einer ausführlichen theologischen Disputation Rede und Antwort zu stehen. Doch da wurde er gründlich enttäuscht. Kaiser Karl V. war mit seinen Beratern übereingekommen, es sei das Beste, Luther nur eine einzige Frage zu stellen – nämlich die, ob er seine Lehre widerrufe.
Als Luther am Nachmittag des 17. April 1521, also vor 500 Jahren, in den Sitzungssaal geführt wurde, waren seine Schriften ausgelegt: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, „An den christlichen Adel deutscher Nation“ oder „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. Der Sprecher des Kaisers, Johann von Eck, wollte wissen, ob Luther bekenne, der Verfasser dieser Abhandlungen zu sein.
Das war nicht bloß eine Formalität, es gab tatsächlich Zweifel. Vor allem am päpstlichen Hof in Rom hatte man den Verdacht, der Reformator sei lediglich eine Marionette einiger Fürsten, die zum Kaiser in Opposition standen. Von Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen, war Papst Leo X. tief enttäuscht. 1518, kurz nach dem „Thesenanschlag“, hatte er ihm noch die „Goldene Rose“ verliehen, in der Hoffnung, Friedrich werde die Predigt des Wittenberger Augustinermönchs unterbinden.
Im März erhält Luther die Vorladung
Im Jahr darauf liebäugelte der Papst sogar mit der Möglichkeit, Friedrich zur Kaiserkrone zu verhelfen. Der Kirchenstaat hatte alle Mühe, sich in einer Schaukelpolitik zwischen den beiden Großmächten Spanien und Frankreich zu behaupten. Da lag der Gedanke nahe, sich mit einem der kleineren deutschen Fürsten zusammenzutun. Aber Friedrich war realistisch genug, die Möglichkeiten seines Kurfürstentums nicht zu überschätzen.
Doch seinem Staat eine weitgehende Selbständigkeit zu sichern, dazu fühlte der Kurfürst sich stark genug. So entschloss er sich, als der Konflikt zwischen Luther und dem Papst ausbrach, seine schützende Hand über die Reformation zu halten. Sicherlich spielte da auch Friedrichs eigene Frömmigkeit eine Rolle, obwohl die neue Lehre doch gerade von ihm eine Umkehr erforderte. In der Wittenberger Schlosskirche hatte er die größte Reliquiensammlung seiner Zeit aufgebaut.
Indem Luther mit den „95 Thesen“ vom Oktober 1517 gegen die gängige Ablasspraxis protestierte, stand auch die Heilsbedeutung solcher Reliquien in Frage. Am 29. März 1521 hatte Luther die Vorladung erhalten. Der Kaiser sicherte ihm freies Geleit zu, hatte insgeheim jedoch bereits eine Vorverurteilung ausgesprochen: Die reformatorischen Schriften sollten eingezogen und vernichtet werden. Luther war bereits auf dem Weg nach Worms, als er davon Kenntnis erhielt. Das Schicksal seines Vorgängers Jan Hus stand drohend im Raum: 1415 war der böhmische Reformator auf dem Konstanzer Konzil als Ketzer verurteilt und verbrannt worden – obgleich Kaiser Sigismund auch ihm freies Geleit gewährt hatte.
Luther entschloss sich dennoch, die Reise fortzusetzen. Der Einzug in Worms am Vormittag des 16. April wurde zum Triumph. „Beim Verlassen des Wagens“, berichtete der päpstliche Nuntius Girolamo Aleandro nach Rom, wurde Luther „von einem Priester umarmt, dieser berührte dreimal sein Gewand. Er rühmte sich dessen, als habe er die Reliquie des größten Heiligen aller Zeiten angefasst.“
In wenigen Jahren war Luthers Reformation zur Volksbewegung geworden. Die theologische Argumentation gegen das Ablasswesen hatte auch einen ökonomischen Nerv getroffen. Über das Versprechen, den verstorbenen Angehörigen und sich selbst gegen materielle Zahlungen Strafen im Fegefeuer erübrigen zu können, floss viel Geld nach Rom. So häuften sich bereits seit Mitte des 15. Jahrhunderts die Beschwerden, Deutschland werde durch die Kurie regelrecht ausgeplündert. 1516, ein Jahr vor dem Thesenanschlag, hatte Aleandro den Papst hellsichtig gewarnt, in Deutschland stehe ein Sturm von beispielloser Heftigkeit bevor. Weite Kreise würden nur auf einen Agitator und die passende Parole warten.
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In Luther glaubte der Nuntius nun, diesen Agitator leibhaftig vor sich zu sehen. Der erste Auftritt Luthers vor dem Reichstag gab ihm jedoch neue Hoffnung, der Aufruhr lasse sich unterdrücken. Zu aller Überraschung antwortete der mutmaßliche Ketzer auf Ecks Frage „Willst du widerrufen?“ weder mit „Ja“ noch mit „Nein“. Er bat um Bedenkzeit, damit er das Verhör ohne Beleidigung des göttlichen Wortes und ohne Gefahr für sein Seelenheil bestehen könne.
Wahrscheinlich wollte sich Luther erst einmal mit der kursächsischen Delegation beraten. Für ihn selbst ging es um eine Gewissensfrage, doch er wusste, dass zugleich das Interesse seines Landesherrn auf dem Spiel stand. Seine Gegner nahmen allerdings nur wahr, dass er der Entscheidung zunächst einmal auswich. Der Kaiser entsprach Luthers Bitte und vertagte die Sache auf den folgenden Nachmittag. Er hatte alles Interesse daran, einen offenen Konflikt mit dem sächsischen Kurfürsten zu vermeiden. Eck mahnte den aufsässigen Mönch noch, er möge bedenken, welchen Schaden er mit seinen „Ketzereien“ bereits angerichtet habe. Ob er diesen Schaden für das Reich und die gesamte Christenheit nicht doch durch eine Rücknahme der Thesen begrenzen wolle?
Geschickt nutzt Martin Luther die antipäpstlichen Aversionen
Luthers Rede vor dem Reichstag am folgenden Tag, dem 18. April 1521, zählt zu den großen Augenblicken der Weltgeschichte. Rhetorisch geschickt betonte er gleich zu Beginn, er sei von „einfachem“ Geist und seine Lehre das reine Gotteswort. Und ebenso geschickt nutzte er die antipäpstlichen Aversionen, die auch bei vielen Anhängern der alten kirchlichen Lehre vorausgesetzt werden konnten.
Mit all seiner Sprachgewalt verkehrte Luther die Situation, in die er hineingezwungen war, in ihr Gegenteil: Eigentlich sollte der Papst auf der Anklagebank sitzen, alle wüssten doch, dass er dem Bösen diene. Unmissverständlich sprach Luther den Kaiser an, indem er an die Propheten des Alten Testaments erinnerte, die ihre Könige zum Kampf gegen dieses Böse aufgerufen hatten.
Von der ursprünglichen Strategie, den Ketzer nur auf die eine Frage nach dem Widerruf antworten zu lassen, war keine Rede mehr. Johann von Eck lenkte das Thema dann aber doch darauf zurück. Was ehedem auf Konzilien entweder beschlossen oder verdammt worden sei, so Eck, dürfe nicht erneut in Zweifel gezogen werden. Das war in der Tat der Punkt, der für viele Zeitgenossen das große Ärgernis der Reformation bildete. Es sei sicher, äußerte sich später der Kaiser, „dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit, wie sie seit mehr als tausend Jahren gelehrt wird, steht. Deshalb bin ich fest entschlossen, an diese Sache meine Reiche und Herrschaften, mein Leib, mein Blut und meine Seele zu setzen“.
Luther antwortete auf Ecks Einwurf, er habe nichts zu widerrufen – außer man widerlege ihn in einer Disputation allein mit Zeugnissen aus dem Alten oder Neuen Testament. In den Jahren seit dem Thesenanschlag hatte er sich zu der Position durchgerungen, dass nicht nur die Päpste, sondern auch die Konzilien sich irren könnten und oft geirrt hätten. In der Bibel sah er die einzige Autorität, er setzte sie auch gegen die kirchliche Tradition.
Luther war kein moderner Mensch
Im Rückblick fällt es leicht zu sagen, dass die Reformation mit diesem Gedanken dem modernen Pluralismus der Weltanschauungen den Weg öffnete. Jeder Gläubige gelangte, indem er den Bibeltext interpretierte, in die Position, über den „richtigen“ und den „falschen“ Glauben zu befinden. Aber Luther war kein moderner Mensch. Das Gewissen, von dem er sprach, war für ihn eine objektiv entscheidende Größe: Ich „kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist“.
Und dann folgte laut einem Augenzeugenbericht noch der Satz: „Gott komme mir zu Hilfe, Amen!“ Offenbar wechselte Luther an dieser Stelle aus der Gelehrtensprache Latein ins Deutsche: Er sprach nicht mehr zu seinen Theologenkollegen, auf deren Urteil sich der Reichstag nach den Vorstellungen des Kaisers stützen sollte, sondern zu den Reichsfürsten, zumeist also Laien.
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Dem historischen Gedächtnis hat sich dieser Schlusssatz etwas anders eingeprägt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen.“ So ist es in den „Verhandlungen mit D. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms“ zu lesen, die seine Anhänger im Mai 1521 herausbrachten. Historisch belegt ist diese heroische Formel nicht. Wahrscheinlich entstand sie aus der Bewunderung heraus, die Luthers unnachgiebige Haltung hervorrief. In Worms hätte niemand sagen können, ob der Kaiser seine Zusage eines freien Geleits einhalten würde.
Kommission will Luther zum Widerruf bewegen
Aber Karl V. wollte einen gewaltsamen Austrag des Konflikts nach Möglichkeit vermeiden. Einige Tage nach dem großen Auftritt ließ er die Reichsstände eine Kommission bilden, die noch zweimal versuchte, Luther zum Widerruf zu bewegen. Jetzt kam es doch noch zu den theologischen Disputationen, die Luther erwartet hatte. Aleandro, der als Beobachter für den Heiligen Stuhl dabei war, berichtete entsetzt, der Reformator habe nicht nur die Lehre der Kirchenväter, der Konzilien und der Päpste in Frage gestellt. Er habe es, durch die Argumente seiner Gegner in die Enge getrieben, allen Ernstes abgelehnt, sich den Gesetzen der Logik und der Dialektik, also der Kunst des Disputierens, zu unterwerfen.
Luther sah es umgekehrt: Was die Päpstlichen vorbrachten, waren bloße „Vernünfteleien“, geeignet, das reine Gotteswort zu verdunkeln. Am 26. April verließ er Worms. Der Kaiser hatte ihm zugesichert, in den nächsten drei Wochen bleibe er unbehelligt – vorausgesetzt, er verzichte auf Predigten. Einen Monat später unterzeichnete er dann doch ein Edikt, durch das Luther in Acht und Bann getan wurde. Alle seine Schriften sollten vernichtet werden.
Kurz nach der Abreise von Worms erhielt Luther von Kurfürst Friedrich die Nachricht, für seine Sicherheit werde weiterhin gesorgt. Von einem Zwischenaufenthalt in Frankfurt aus schrieb er an den Maler Lucas Cranach, er lasse sich eine Zeitlang „eintun und verbergen, weiß selbst noch nicht, wo“. Es wurde dann die Wartburg, wo er sich daran machte, die Bibel neu ins Deutsche zu übersetzen.
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