E-Sportler im Interview: Früher haben "League of Legends"-Profis ums Überleben gekämpft

  • Millionen von Menschen sehen zu, wenn E-Sportler wie Maurice Stückenschneider bei Wettkämpfen antreten.
  • Der 27-Jährige „League of Legends“-Veteran hat miterlebt, wie die Szene ihr Nischendasein hinter sich gelassen und sich zu einem weltweiten Phänomen entwickelt hat.
  • Er weiß aber auch, wie viel Druck auf Profispielern lastet und wie es ist, als E-Sportler ums Überleben zu kämpfen.

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Mit Pendelverkehr, Quartalsberichten oder Kundentelefonaten muss sich Maurice Stückenschneider im Laufe seiner Karriere nicht herumschlagen. Dafür bekommt er es Tag für Tag mit einem Dschungel, Drachen und inzwischen über 150 Champions zu tun. Denn Stückenschneider ist von Beruf E-Sportler und Profi in „League of Legends“ (LoL).

LoL gilt als einer, wenn nicht sogar der beliebteste E-Sport-Titel der Welt. Millionen von Menschen schalten pro Jahr ein, um die Spiele der Profis zu verfolgen.

Auch als Spiel selbst ist LoL nicht minder beliebt. Rund 100 Millionen Menschen spielten es zwischenzeitlich pro Monat. Und das, obwohl die Einstiegshürden in das Spiel hoch sind. Denn LoL ist ein komplexes Teamspiel.

Je fünf Personen pro Mannschaft kämpfen sich darin über eine symmetrische Karte. Ihr Ziel: In der Basis des Gegners dessen Hauptgebäude, den Nexus, zu zerstören. Dafür wählen die Spieler vor der Partie jeweils eine Spielfigur, einen sogenannten Champion. Jeder davon hat mehrere individuelle Fähigkeiten, die seine Rolle im Spiel definieren. Manche sind dafür da Schaden auszuteilen, andere sind gut darin ihre Verbündeten zu beschützen.

Zu den mehr als 150 Champions kommen stetig neue dazu. Als wären die dadurch nahezu endlosen Möglichkeiten an Teamkonstellationen und hunderte Fähigkeiten die man als Spieler überblicken muss nicht schon komplex genug, gibt es auch noch dutzende von Ausrüstungsgegenständen für die Champions und viele weitere Faktoren, die über Sieg und Niederlage entscheiden können.

Stückenschneider ist einer der erfolgreichsten deutschen LoL-Profis

Maurice Stückenschneider hat es sich zum Beruf gemacht, bei all dem nicht den Überblick zu verlieren und herauszufinden, welche Champions aktuell am besten und welche Strategien am effektivsten sind.

Der 27-Jährige ist einer der erfolgreichsten LoL-Profis aus Deutschland. Im Laufe seiner Karriere hat er unzählige Turniere bestritten und so ziemlich alles miterlebt, was es in der E-Sports-Szene von „League of Legends“ zu erleben gibt.

Er kämpfte in Südkorea, Frankreich, England und Belgien gegen die besten Teams um die Weltmeisterschaft und spielte unter anderem für den Fan-Liebling „Team Solo Mid“ in Nordamerika, sowie für den Traditionsverein Schalke 04 in Europa.

Allein die Dauer von Stückenschneiders Karriere, ist schon eine beachtliche Leistung. Seit 2012 ist er Teil der Szene. Nur wenige „LoL“-Profis können auf ähnlich lange Karrieren zurückblicken.

Denn auch wenn eine E-Sport-Karriere für viele im ersten Moment vor allem nach Spaß und Ruhm klingt, hat Stückenschneider erlebt, dass das Leben als „LoL“-Profi viel härter ist, als es den Anschein hat.

Statt von den Momenten im Rampenlicht erzählt er im Interview mit unserer Redaktion deshalb von mentalem Druck, der ständigen Angst durch einen jüngeren Spieler ersetzt zu werden, Burnout, ungewissen Zukunftsperspektiven – und warum sein Wille sich trotz all dieser Widrigkeiten als Profi durchzubeißen bis heute ungebrochen ist.

Herr Stückenschneider, Sie sind seit gut neun Jahren in der Profi-Szene von „League of Legends“ (LoL) aktiv. Würden Sie sagen, dass Sie zu Beginn ihrer Karriere wussten, worauf Sie sich da einlassen?

Zu einem gewissen Maße schon. Aber ich hatte natürlich nicht das komplette Feld im Blick. Damals habe ich eher den Spaß an der Sache und das Herumreisen gesehen. Mittlerweile ist „League of Legends“ zu einem Weltsport geworden und Spieler müssen viel größere Ansprüche erfüllen.

Inwiefern?

Hauptsächlich dadurch, dass man jetzt professionellere Umfelder hat. Früher hatte man oft nur fünf Spieler, plus die Organisation, hinter dem Team. Selbst Trainer waren noch nicht so beliebt. Mittlerweile muss man LoL-Profis wie einen Fußballprofi sehen. Auch Privates und Berufliches wird inzwischen mehr separiert. Die Trainingsansprüche haben sich ebenfalls verändert. Früher hat man aus Eigenverantwortung trainiert, weil man für sein Team gut sein wollte. Inzwischen stellen die Trainer mehr Anforderungen.

Würden Sie sagen, dass der Druck auf die Spieler gestiegen ist?

Heutzutage ist es einfacher, E-Sports-Profi zu sein. Wahrscheinlich ist es schwerer der Beste zu sein, weil es viel mehr Konkurrenz aus allen Teilen der Welt gibt. Aber die Spieler werden besser behandelt als früher, wo man teilweise sogar ums Überleben gekämpft hat.

Wie meinen Sie das?

Die Organisationen kümmern sich heute mehr um die Probleme der Spieler und müssen auch stärker vertragliche Anforderungen erfüllen. Spieler bekommen mehr Geld und haben höhere Lebensstandards. Außerdem hat man weniger sozialen Druck als E-Sportler, weil man inzwischen so gut bezahlt wird und gesellschaftlich besser etabliert ist. Es hört sich dramatisch an, aber viele E-Sportler der ersten und zweiten Generation sind nicht unbedingt die sozialsten Personen gewesen. Zumindest in „League of Legends“. Viele haben aus psychischen Gründen die Schule oder ihr Studium abgebrochen und dann die Möglichkeit gesehen, in den E-Sport einzusteigen.

Stückenschneider: „Um der Realität ein Stück weit zu entfliehen, habe ich angefangen mehr und mehr zu spielen“

Ging es Ihnen auch so?

Ich war ein guter Schüler, musste aber wegen gesundheitlicher Probleme meine Ausbildung abbrechen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schwere Depressionen. Ich glaube, um der Realität ein Stück weit zu entfliehen, habe ich dann angefangen mehr und mehr zu spielen, bin sehr gut geworden und habe Angebote bekommen.

Und plötzlich mussten Sie vor tausenden Zuschauern als LoL-Profi Leistung erbringen. Hat dieser Druck Ihren psychischen Zustand nicht verschlimmert?

Für eine kurze Zeit schon. Aber wenn ich über den Verlauf meiner Karriere nachdenke, war der Leistungsdruck für mich eher angenehm. Ich war schon immer ein wettbewerbsorientierter Mensch, der sehr gerne auch Sportarten wie Fußball und Basketball betrieben hat. Die Aufgaben, die man innerhalb des Teams übernimmt, sind für mich depressionsbefreiend gewesen. Man musste Verantwortung für andere Spieler und die Organisation übernehmen. Zu dem Zeitpunkt war es unmöglich, über die psychologischen Probleme, die ich hatte, nachzudenken. Das hat mich befreit und mir geholfen.

Ihnen hat LoL also geholfen, die Depression zu überwinden?

Es war ein erster, aber auch der größte Schritt. Viele Leute, die in so einer Negativspirale sitzen, haben keinen Platz in dieser Welt gefunden. Das war zumindest meine Erfahrung. „League of Legends“ hat mir diesen Platz gegeben und mein Selbstwertgefühl, mein soziales Ansehen und mein Einkommen gesteigert. Dazu hat mir das Spiel Reisen und Erfahrungen mit Freunden und Familien ermöglicht. Dadurch hat man einen anderen Blick auf die Welt.

In der Vergangenheit haben Sie mehrfach in Interviews erklärt, dass Ihr Beruf aber zu mentalen Problemen, wie einem lange anhaltenden Burnout, geführt hat. Wie passt das zusammen?

Ich fühle mich fast wie ein Hypochonder, weil ich so oft darüber spreche. Aber 2017 wurde ich sehr krank. Damals war ich in der Situation gefangen, dass ich das Gefühl hatte, dass der Leistungsdruck einfach zu viel für mich geworden ist. Man hat auch Anforderungen an sich selbst und möchte der Beste sein. Wenn man diese Anforderungen plötzlich nicht mehr erfüllen kann, wirft einen das zurück. Alles, was positiv war, wird dann ins Negative gedreht, weil man seinen Platz in der Welt wieder verlieren könnte. Ich glaube, damit komme ich mittlerweile viel besser klar.

Warum?

Damals ist bei mir eine Autoimmunerkrankung ausgebrochen, die mittlerweile in Remission ist. Zu dem Zeitpunkt wusste ich das aber noch nicht. In den vergangenen Monaten habe ich die finalen gesundheitlichen Probleme eliminiert. Seitdem spüre ich auch den Burnout nicht mehr. Ich könnte jetzt auch wieder spielen, wenn ich wollte. Was komisch ist, weil ich die letzten zwei Jahre so damit gekämpft haben.

Also war nicht, wie Sie es früher beschrieben haben, der Leistungsdruck an Ihren psychischen Problemen schuld?

Ja. Wahrscheinlich waren die gesundheitlichen Probleme der Hauptfaktor. Es kann auch sein, dass der Burnout davor schon unterschwellig da war und sich nur nicht aktiv gezeigt hat.

Im klassischen Sport werden psychische Probleme wie Depressionen und Burnout noch immer stark tabuisiert. Sie werden oft als Schwäche angesehen, die einen Spieler für erfolgsorientierte Teams unattraktiv macht. Ist das im E-Sport auch so?

Ich habe es noch nicht erlebt, dass jemand wegen psychischer „Schwäche“ in irgendeiner Hinsicht diskriminiert wurde. Zumindest nicht in den Teams, in denen ich gespielt habe. Aber man sieht es in anderen Bereichen.

Das müssen Sie erklären.

Etwa bei Spielern, die zu aggressiv sind. Nicht unbedingt Aggressionsstörungen, sondern einfach nur Anpassungsstörungen. Das wird tatsächlich ausgegrenzt.

(Anm. d. Red: Aggressivität ist in der „League of Legends“-Szene nicht mit Gewaltbereitschaft zu verwechseln. Spieler gelten als aggressiv oder toxisch, weil sie etwa auf Niederlagen extrem emotional oder ausfallend reagieren. Als Strafe für diese Art von Verhalten wurden in der Vergangenheit auch immer wieder Spieler vom kompetitiven Betrieb ausgeschlossen.)

„Viele Spieler finden nur wegen ihrer Persönlichkeit keine Teams“

Wie äußert sich das?

Viele Spieler finden nur wegen ihrer Persönlichkeit keine Teams oder werden nur von wenigen in Betracht gezogen. Zum Beispiel Nemesis.

(Anm. der Red: Tim „Nemesis“ Lipovšek ist ein slowenischer Spieler und steht derzeit bei Gen G als Content-Creator unter Vertrag).

Ich glaube, acht von zehn Teams würden diesen Spieler nicht aufnehmen, auch wenn er vielleicht das Talent dafür hätte. Die Teams gehen mittlerweile mit anderen Gedankengängen an Talente heran. Deswegen sucht man nicht nur unter den Top-50-Spielern, sondern unter den Top 300. Aber dann speziell nach Persönlichkeit und Spielstil gefiltert. In gewisser Hinsicht ergibt das auch Sinn. Man muss darüber nachdenken, wie die anderen vier Spieler mit so jemandem umgehen könnten. Wenn man einen Spieler hat, der aus der Reihe tanzt, und vier, die sich an das Teamgefüge halten, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man sich einen möglichen Problemfaktor ins Team holt.

Jemanden mit viel Talent nicht ins Team zu holen, weil derjenige dort für Unruhe sorgen könnte, klingt für mich eher nach einer Form von Professionalisierung als nach Ausgrenzung, oder nicht?

Es ist widersprüchlich. Viele Teams haben jetzt die Möglichkeit, den Spielern etwas zu bieten. Aber durch die Professionalisierung der E-Sports-Szene sind die Eigeninteressen der Teams gestiegen. Das führt dazu, dass Menschen, die in einem sozial und psychologisch betreuten Team ihre Persönlichkeit beziehungsweise ihre persönlichen Probleme außen vor lassen könnten, nicht in Betracht gezogen werden.

Aber wenn die Teams die Möglichkeit haben, toxische Spieler mit viel Talent zu Teamplayern zu formen, warum tun sie das nicht? Davon würden sie doch nur profitieren.

Manche wollen tatsächlich nur das Potenzial von Spielern ausnutzen und sie dann in die unteren Ligen schicken, während andere Teams ein langfristiges Projekt verfolgen. Ein Team wie Excel würde jemanden wie Nemesis wahrscheinlich nicht unter Vertrag nehmen. Vitality hat hingegen andere Interessen, als den Spielern eine lange Karriere zu ermöglichen.

Talente zu verbrennen klingt für mich nicht danach, als wäre man an sportlichen Erfolgen interessiert.

Ich glaube, für manche Teams ist es tatsächlich von Interesse zu gewinnen, in der Hinsicht, dass sie den sportlichen Erfolg noch suchen. Aber natürlich geht es mehr um die finanzielle Situation. Die Preisgelder rechnen sich seit Jahren nicht. Es ist auch ein sehr offenes Geheimnis, dass sich die meisten Teams nur in die Ligen eingekauft haben, um ihre Popularität zu steigern und sie als Werbefläche für sich zu nutzen, oder den Spot in der Zukunft gewinnbringend zu verkaufen.

(Anm. d. Red: 2018 führt Entwickler Riot Games ein sogenanntes Franchise System in der nordamerikanischen Liga (LCS) von „League of Legends“ ein. 2019 wurde das System auch in der europäischen Liga (LEC) übernommen. Verkürzt gesagt müssen sich die Teams seitdem in die jeweilige Liga einkaufen, können dafür aber nicht mehr absteigen. Teams können ihren Liga-Platz (meist „Spot“ genannt) aber an andere Organisationen verkaufen. Im Juni stieg etwa Schalke 04 aus der LEC aus und verkaufte seinen Platz für 26,5 Millionen Euro an das Schweizer Team „BDS“. Gekauft hatte Schalke 04 den Spot für acht Millionen Euro.)

Obwohl es laut Ihnen früher schwerer war Profi zu sein, halten sich doch einige Spieler seit den Anfängen der Szene. Was unterscheidet sie vom Rest der Profis?

Viele der Spieler von damals haben viel Druck durch ihr Familien-Gefüge gespürt. Was ich damit meine, ist, dass sie nicht sozial so etabliert waren, wie Spieler heutzutage. Vor allem in Europa stammen mittlerweile viele Profis aus – ich möchte nicht reichen Familien sagen, aber aus guten Verhältnissen. Im Vergleich zu damals gibt es da tatsächlich eine sehr große Diskrepanz. Dazu kommt, dass viele Spieler von damals Schul- beziehungsweise Universitätsabbrüche hinter sich hatten oder nicht den Job fanden, den sie wollten. Das führt zu sozialem Stress und zu einem hohen Selbsterhaltungstrieb. Im Gegensatz zu damals sind die Profis heute hauptsächlich Leute, die willentlich aus dem Studium und so weiter aussteigen.

Also hat bei Ihnen die schlechte Ausgangslage dazu geführt, dass Sie sich durchgebissen haben?

Ja. Meine Eltern haben mich immer unterstützt. Aber natürlich ist es etwas anderes, ob man jetzt mit hunderttausenden Euros auf dem Konto aufwächst oder mit null.

Klingt, als hätten Sie während Ihrer Karriere auch mit Existenzängsten zu kämpfen gehabt.

Zu gewissen Zeiten, ja. Wenn man merkt, dass man einen Durchhänger hat und nicht mehr so gut ist wie zuvor, dann überlegt man sich, ob man seine Zeit vernünftig investiert hat. Dazu kommt: Wenn man tatsächlich eine andere Profession finden muss, sollte man in der Zeit, in der man spielt, genug eingenommen haben, um sich zumindest für die nächsten paar Jahre über Wasser halten zu können. Am besten ist es natürlich, wenn man nach seiner Zeit als E-Sportler für das Leben ausgesorgt hat. Aber für die meisten ist das nicht die Realität. Für mich war es damals auch nicht so, dass ich eine dieser zwei Alternativen hatte. Deshalb musste ich mich durchbeißen und hatte die Angst, wenn ich es jetzt nicht weiter versuche, muss ich vielleicht wieder bei meinen Eltern unterkommen. Jemand mit Mitte zwanzig, der die Welt bereist und in Korea, China und den USA gespielt hat, möchte sich diesen Lebensstandard natürlich erhalten, anstatt wieder an die Anfänge zurückzukehren.

Und wie lange muss man sich als Profi durchbeißen, um sich perspektivisch über Wasser halten zu können?

Die großen Ligen wie LEC oder LCS müssen inzwischen mehr zahlen, um Spieler anzulocken. Auch, weil man den Einfluss der kleineren und internationalen Ligen mehr spürt. Deshalb kann man sich heutzutage nach einer drei- bis vierjährigen Karriere schon als gut situiert sehen. Früher war das noch anders. Da mussten die meisten Spieler sechs bis zehn Jahre spielen.

„Ich sehe es nicht als realistisch, E-Sports-Profi zu werden“

Wie realistisch ist das für jemanden, der mit dem Gedanken spielt, Profi zu werden?

Ich betrachte das Risiko als zu hoch. Es ist ein unwirklicher Weg. Von den Challenger-Spielern, also den Top 300 einer Region, wird ein kleiner Teil Semi-Profi und ein noch kleinerer Teil tatsächlich Profi. Wir reden hier über einen von 100.000. Ich sehe es nicht als realistisch, E-Sports-Profi zu werden, oder für mehr als zwei bis drei Jahre spielen zu können. Außer man arbeitet jeden Tag 12 bis 16 Stunden. Und wenn man dann in der Szene einmal angekommen ist und sich nicht unbedingt einen Namen aufbaut, kann man innerhalb von wenigen Spielen seinen Lebensstandard zerstören. Spieler werden heute viel schneller ausgetauscht und recycelt.

Wenn die Karriere so schnell vorbei sein kann, sollte man als Profi dann nicht versuchen, sich ein zweites Standbein aufzubauen? Als Trainer, Analyst oder etwas in die Art?

Um sich ein zweites Standbein aufbauen zu können, muss man sehr populär sein. Zumindest in den höheren Ligen ist es für die meisten Spieler nicht realistisch, Trainer zu werden. In der LCS gibt es jedes Jahr 50 bis 60 Spielerplätze. Trainerpositionen wiederum sind auf zwei pro Team begrenzt. Ich glaube aber, wen man einen Abstieg in Kauf nimmt und in die niedrigeren Ligen geht, man da schon als Spieler, Trainer oder Analyst unterkommt.

Und außerhalb der E-Sports-Szene?

Sein Studium weitermachen ist zumindest in höheren Ligen unmöglich. Also während man aktiv spielt. Und in einen etablierten „9 to 5“-Job reinzukommen ist vermutlich sehr schwer, wenn man den Lifestyle eines E-Sportlers gewöhnt ist, weil es einfach ein komplett anderes Leben ist.

Kennen Sie Spieler, denen ihre LoL-Karriere den späteren Weg verbaut oder erschwert hat?

Ich kenne nur ein oder zwei solcher Fälle. Aber bei diesen Personen liegt es vor allem daran, dass sie zu früh ausgestiegen sind und dadurch die Professionalisierung im E-Sport nicht miterlebt haben. Dadurch konnten sie zum Beispiel von den gehobenen Gehältern nicht profitieren. Trotzdem hatten sie die sozio-psychologischen Probleme, wegen denen sie überhaupt in die Szene eingestiegen sind. Das sind die Leute, die am meisten Probleme hatten, sich ein anderes Leben aufzubauen.

Müssten Sie sich heute auch noch Sorgen über Ihre finanzielle Zukunft machen, wenn Sie beschließen würden, das Spiel nie wieder anzurühren?

Nein, müsste ich nicht. Dafür ist mein Fangnetz mittlerweile groß genug.

„Die soziale Entwicklung bleibt doch einfach zurück“

Sie meinten, dass man mindestens 12 Stunden pro Tag trainieren muss, um in den höheren Ligen bestehen zu können. Kann man bei diesem Pensum irgendeine Form von Sozialleben führen?

Sehr schwer. Allgemein bleibt die soziale Entwicklung doch einfach zurück. Das kann man nicht komplett abwenden. Ich glaube, ich habe in den letzten zwei oder drei Jahren mehr über mein eigenes Leben gelernt als in all der Zeit davor. Man ist in diesem Vakuum und das verschluckt einen. Die soziale Entwicklung wird dann an einzelnen Tagen in der Woche betrieben. Dadurch verliert man gewisse Fähigkeiten oder entwickelt sie nicht, die in der normalen, erwachsenen Welt notwendig sind.

In anderen E-Sport-Arten lassen sich Privatleben und Karriere sehr viel besser vereinen. Woran liegt das?

An der Taktung der Updates, die das ganze Spielgefüge ändern.

(Anm. d. Red: Für „League of Legends“ werden in regelmäßigen Abständen Updates veröffentlicht. Durch diese werden etwa die spielbaren Charaktere verstärkt oder abgeschwächt, neue Ausrüstungsgegenstände eingeführt und vieles mehr. Die Entwickler versuchen dadurch, das Spielgefühl frisch zu halten, weil die Spieler konstant auf den Wandel reagieren müssen.)

Und man hat mehr Einfluss aus dem östlichen Raum. Südkorea als auch China haben sehr viel mehr Ressourcen und gehen damit ganz anders um.

Inwiefern?

Ich habe schon Storys aus chinesischen Gaming-Häusern gehört, wo 40 Spieler eingeflogen werden und dann der Coach Tag für Tag Leute aussortiert. So ähnlich wie bei Big Brother. Außerdem hat der E-Sport dort eine längere Historie und ist dadurch auch stärker anerkannt. Bei manchen Teams hat die Professionalisierung ein Umdenken bewirkt. Es passiert mittlerweile schon, dass man sich von dem asiatischen Raum abgrenzt und nicht erwartet, dass sich die Spieler so aufopfern, wie es in Südkorea und China gang und gäbe ist. Aber das ist noch nicht bei allen Teams so angekommen.

Druck durch Millionen Fans, mindestens zwölf Stunden Training pro Tag, kaum Privatleben und unsichere Zukunftsaussichten: Trotz alledem denken viele Menschen, E-Sportler würden einfach nur fürs „Zocken“ bezahlt werden.

Es ist genau das Gegenteil. Meine Eltern mussten das auch erst lernen. Ihnen gegenüber habe ich immer die Differenz gemacht, dass ich nicht spiele, sondern trainiere. Ich mache es nicht aus Spaß oder Lust, sondern um mein Level beizubehalten beziehungsweise es zu verbessern. Das ist der Unterschied. Jedes Mal, wenn ich höre, dass man daddelt oder spielt, ist das eine Delegitimierung. Ich halte auch den Begriff E-Sport für komplett unnötig. Inzwischen ist der Punkt erreicht, wo man es als Sport bezeichnen muss.

„Menschen arbeiten dutzende Stunden darauf hin, die besten Spieler der Welt zu werden“

Macht es so einen großen Unterschied, wie man es nennt?

Es als Sport zu bezeichnen würde eine Legitimierung herstellen. E-Sportler sind Sportler, und das muss man auch der Allgemeinheit vermitteln. Es ist wichtig, soziales Verständnis dafür zu schaffen, dass es Menschen, die dutzende Stunden am Tag darauf hinarbeiten, die besten Spieler der Welt zu werden, nicht darum geht zu zocken, sondern dass sie einen Sport betreiben. Die ältere Generation ist da eher verloren. Aber warum wird nicht vernünftig darüber gesprochen, wie man mit E-Sports umgehen sollte?

Also tut die Politik Ihrer Meinung nach zu wenig?

Wenn man E-Sports zumindest politisch legitimieren würden, dann würde die soziale Akzeptanz von allein kommen. Wann immer ich mich über die Jahre mit Politikern ausgetauscht habe, hatte ich aber das Gefühl, dass es darum ging die „Rakete des E-Sport“ in Deutschland zu lenken. Also den Wettkampf irgendwie zu verstaatlichen. Das heißt, man möchte große E-Sports-Bündnisse etablieren und gewisse Dinge zertifizieren, die dann zu mehr Einnahmen für die Bündnisse führen. Der deutsche Fußballbund verdient ja auch gut und das möchte man auch gleichermaßen für den E-Sport etablieren. Das ist verständlich, aber dafür gibt es meiner Meinung nach, keine Notwendigkeit.

Und warum?

E-Sports ist so breit gefächert und so international, dass es keinen Sinn gibt, den Wettkampf nationalisiert zu reglementieren. Wenn man Vereine gründen will, dann eher als soziale Projekte, die es Kindern ermöglichen, miteinander zu interagieren.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die GroKo eigentlich schon 2018 festgelegt, dass sie E-Sport in Deutschland als vollwertigen Sport anerkennen will. Passiert ist bis dato aber im Grunde nichts. Kränkt einen das als Profi?

Wenn es nicht die CDU wäre, dann ja (lacht). Aber eigentlich nicht.

Stückenschneider: E-Sport sollte bei ARD und ZDF gezeigt werden

Was müsste man denn tun, damit E-Sport gesellschaftlich mehr Anerkennung erfährt?

Vielleicht eine E-Sports-Olympiade aufbauen. Oder irgendetwas fördern, das in diese Richtung geht. Eine europäische Meisterschaft, die tatsächlich länderbasiert ist, etwa. Ein Grund dafür, dass viele den E-Sport noch immer als „Zocken“ ansehen, ist, dass sie ihn noch nicht auf „ARD“ und „ZDF“ vor Augen hatten. Selbst wenn die Fußballspieler während der Pandemie ohne Fans in der Arena spielen, sieht der Zuschauer trotzdem, dass da etwas betrieben wird. Auf den öffentlich-rechtlichen Sendern für ein, zwei Stunden E-Sports zu zeigen – und wenn auch nur für einen Monat im Jahr – wäre gut. Weil die Leute dann damit konfrontiert werden würden.

Aktuell sind Sie zwar Teil eines E-Sports-Teams, spielen aber nicht aktiv in einer Liga. Sie haben aber schon mehrfach angedeutet, dass Sie ein Comeback planen. Gibt es dafür schon konkrete Pläne?

Konkrete unkonkrete Pläne (lacht).

Bei all den negativen Aspekten, die Sie angesprochen haben, stellt sich die Frage: Ist das eine Entscheidung aus Leidenschaft, aus Ehrgeiz oder aufgrund eines Mangels an anderen Möglichkeiten?

Ich glaube, ich war in diesem Interview leicht negativ. Es ist wichtig, vor allem Jugendlichen und Kindern, die den Traum haben E-Sportler zu werden, kein falsches Bild zu verkaufen. Da steckt viel mehr dahinter als zocken und die Hochmomente, die ein Rekkles oder ein Bjergsen auf der Bühne zeigen.

(Anm. d. Red: Der Schwede Martin „Rekkles“ Larsson steht derzeit bei G2 Esports als Spieler unter Vertrag. Sven „Bjergsen“ Bjerg, stammt aus Dänemark und ist nach seiner Karriere als aktiver Spieler derzeit Trainer bei „Team Solo Mid„.)

Aber aus meiner Erfahrung waren diese Hochmomente die besten Momente meines Lebens. Ich bin seit fast zehn Jahren dabei, und ich würde immer noch für die nächsten zehn Jahre spielen, wenn ich könnte. Weil ich das Kompetitive und den Wettkampf, der dahintersteckt, so liebe. Das wird mir für immer bleiben.

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