‚Die Macht der Seuche‘: Die modernen Lehren aus der Pest

Die genuesische Hafenstadt Caffa auf der Krim wurde seit drei Jahren von tatarischen Truppen belagert. Da plötzlich geschah etwas, wovon der Chronist Michele da Piazza meinte, es sei ein Wunder Gottes: „Die Krankheit überfiel die Tartaren, lähmte ihr ganzes Heer und vernichtete jeden Tag viele Tausende von ihnen.“

Doch die Tataren schichteten ihre Toten auf Wurfmaschinen und schleuderten sie in die Stadt, „damit dort alle durch die unerträgliche Ausdünstung zugrunde gehen sollten“. Zwei italienische Handelsschiffe legten schleunigst ab und flohen in die Heimat. Doch zu spät: Sie hatten die Seuche bereits an Bord.

„Schuldzuweisung“ von einer Gruppe auf eine andere

Ob der „Schwarze Tod“ im Herbst des Jahres 1347 wirklich auf diese Weise nach Europa gekommen ist, sei aber doch recht zweifelhaft, meint der Historiker Volker Reinhardt von der Universität Fribourg in seinem Buch „Die Macht der Seuche“. Allzu deutlich spiegele sich in dieser Geschichte ein Motiv, das bei solchen Epidemien immer wiederkehrt: die „Schuldzuweisung“ von einer Gruppe auf eine andere. Wie auch immer.

Als die genuesischen Kaufleute nach Zwischenaufenthalten in Konstantinopel und Sizilien vor ihrer Heimatstadt ankamen, hatten die Behörden dort bereits Kunde von der zuvor unbekannten Krankheit. Sie verweigerten die Einfahrt in den Hafen. Doch in Marseille fanden die Seeleute im November 1347 Aufnahme. Im Frühjahr 1348 erreichte die Pest Paris, ein Jahr später die Städte am Rhein. Bis 1353 war so gut wie ganz Europa betroffen.

Einer der Unterschiede zwischen der Pest und Corona: Unter den Bedingungen des modernen Weltverkehrs können sich Krankheiten viel schneller um die Welt verbreiten. Auch medizinisch war die Pest, die durch das Bakterium Yersinia pestis verursacht wurde, etwas ganz anderes als die Virenkrankheit Covid-19.

Der Versuch, so etwas wie „Sinn“ zu finden

Doch wenn es um die Anstrengungen der Menschen geht, mit solchen Herausforderungen fertig zu werden, stellt Reinhardt fest, zeigen sich über die Distanz von fast 700 Jahren hinweg doch manche Ähnlichkeiten. Damals wie heute wird versucht, aus dem scheinbar Sinnlosen so etwas wie „Sinn“ zu filtern.

Jüngstes Beispiel: Die jetzige Krise biete „die Gelegenheit, durch effiziente Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen“, verkündete Anfang Februar 2021 eine internationale Gruppe von Spitzenpolitikern in der „FAZ“.

Dem 14. Jahrhundert, sollte man meinen, lag eine solche Sinnfindung eigentlich näher als dem 21. Jahrhundert. „Die Menschen zur Zeit der ersten großen Pest lebten in einem anderen Weltbild“ als wir heute, schreibt Reinhardt. Viele Chronisten deuteten die Seuche als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen. „Die Suche nach den Schuldigen lief heiß“, fasst Reinhardt die Quellen zusammen.

Verbot der kollektiven Selbstgeißelungen

Vor allem die religiöse Minderheit der Juden stand unter Verdacht, schon durch ihre bloße Existenz den göttlichen Zorn auf die gesamte Gesellschaft herabzuziehen. Zwar verhängte Papst Clemens VI. über jeden Christen die Exkommunikation, der Juden tötete oder ihnen ihr Eigentum wegnahm: Es sei „gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass die Juden Anlass oder Ursache dieser gewaltigen Geißelung sind“ – schon deshalb, wie Clemens anfügte, weil der Pest auch Juden zum Opfer fielen.

Reinhardt hat jedoch Belege gefunden, dass der Papst wegen dieser Stellungnahme hart kritisiert wurde.

Eine Bewegung, die ganz Europa erfasste, waren die „Flagellanten“, die Geißler: Die rituelle Selbstbestrafung schien am ehesten ein Weg, um Gott von der noch schlimmeren Strafe der Seuche abzubringen. Aber Papst Clemens witterte die Gefahr einer „Gegenkirche“ und verbot die kollektiven Selbstgeißelungen.

„Unzufriedenheit mit dem Heilsvermittlungsangebot der Kirche hatte sich lange vor dem Ausbruch der Pest manifestiert“, schreibt Reinhardt. Die Pest stellte viele Menschen zusätzlich vor das Problem, dass eine geplante Wallfahrt nach Rom, die einen vollkommenen Erlass von Strafen im Fegefeuer hätte bringen können, gar nicht mehr möglich war.

Clemens reagierte auf diese Not, indem nunmehr jeder Priester das Recht erhielt, den Sterbenden einen vollkommenen Ablass zu verleihen. Doch auch die Priester hatten Angst um ihr Leben und ließen viele Sterbende für sich allein.

Keine Nähe zu Infizierten – damals wie heute

„Die Priester und Bettelmönche gingen in größerer Zahl nur noch zu den Reichen“, zitiert Reinhardt einen zeitgenössischen Bericht, „und ließen sich von diesen so üppig bezahlen, dass sie selbst reich wurden.“

Ebenso die Ärzte, die angesichts der Pest zweifellos ein Bild allgemeiner Hilflosigkeit abgaben. Es gab keine im heutigen Sinne „wissenschaftliche“ Medizin. Als wirksame Therapie galt zum Beispiel der Aderlass, um das verdorbene Blut abfließen zu lassen. Oder zur Vorsorge ein Nebel von wohlriechenden Düften.

Ein Mittel hat sich seit der Großen Pest bis heute nicht geändert: In den 1360er Jahren empfahl der Mailänder Arzt Cardone de Spazotis, jede Nähe zu den Kranken so weit wie möglich zu vermeiden. 1348 hatte der Stadtherr von Mailand, Lucchino Visconti, dieses Rezept mit größter Brutalität in Politik umgesetzt. Angeblich ließ er Familien, in denen die Pest aufgetreten war, einmauern und von jedem Kontakt abschneiden, so dass sie verhungern mussten.

Tatsächlich behaupten die Quellen, in Mailand habe es damals nicht mehr als drei Familien gegeben, in denen die Pest Tote forderte. Im Frühjahr 2020, berichtet Reinhardt, war in zahlreichen Blogs und Tweets in Norditalien der Ruf zu hören: Hätten wir doch heute einen Lucchino Visconti an der Macht… Aber mit welchen administrativen Maßnahmen das „Wunder“ erreicht wurde, ist unklar.

Die Pest in der Lombardei

1373, als die Pest in die Lombardei zurückkam, versuchte Lucchinos Neffe Bernabò das „Wunder“ zu wiederholen. Wieder wurden Erkrankte eingemauert, Verdächtige ausgewiesen. In diesem Fall ist allerdings belegt, dass die Maßnahme ihre Kehrseite hatte: Im Umland verbreitete sich die Krankheit erst recht.

Bei der Pest von 1399 ordnete Gian Galeazzo Visconti an, alle Gegenstände, die mit den Infizierten in Berührung gekommen waren, zu reinigen oder zu verbrennen.

Auch manche Städte Süddeutschlands blieben so gut wie verschont. Die Ursachen sind nicht geklärt. Insgesamt, so Reinhardt, galt der Grundsatz: Je enger das Zusammenleben, desto größer die Gefahr.

Besonders hohe Todesraten sind aus Klöstern überliefert: „Wenn die Pest erst einmal ein Mitglied einer mehrköpfigen Lebensgemeinschaft erfasst hatte, gab es für die Mitbewohner in der Regel kein Entrinnen mehr, darin sind sich fast alle Pestberichte einig.“

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Die Pest – eine Chance zur Umkehr, zur moralischen und religiösen Erneuerung? Die Chroniken sind voll von dieser Hoffnung. Doch sie blieb unerfüllt.
In der Katastrophe „verflüchtigten“ sich vielmehr die sozialen und moralischen Regeln. „Die Tünche der Zivilisation fällt ab und legt das Instinktwesen Mensch in seiner ganzen Hässlichkeit frei“, resümiert Reinhardt nicht ohne Pathos.

Ein Dauerthema der Pestverordnungen in vielen Städten war die Gefährdung der öffentlichen Sitten durch exzessiven Alkoholkonsum. Zeitweise wurden in Venedig sämtliche Gasthäuser geschlossen. Nicht lange. Der politische Druck seitens der Betreiber war zu groß, und auf die Steuereinnahmen konnte die Stadt nicht verzichten.

Die Flucht vor der Seuche mag im Einzelfall geholfen haben, der Pest zu entgehen. Aber oft trug sie dazu bei, die Seuche weiterzuverbreiten.

In den Chroniken, die nach dem Abklingen entstanden, hat Reinhardt eine zunehmende Enttäuschung festgestellt: Die Welt war nicht mehr dieselbe wie vor der Katastrophe, aber anders als viele es gehofft hatten, war sie nicht besser geworden, vielleicht sogar schlechter.

Schwere politische Krise nach der Pest

In Florenz entsetzte sich Matteo Villani über die „Profiteure“: „Diejenigen, die vorher nichts gehabt hatten, wurden plötzlich reich mit dem, was ihnen nicht gehörte, und betrugen sich deshalb ungebührlich.“

In Venedig zog die Pest 1355 die schwerste politische Krise in der tausendjährigen Geschichte der Republik nach sich: Der Doge Marino Faliero versuchte, den herrschenden Adel durch einen Putsch zu entmachten. Dahinter stand die durchaus zutreffende Beobachtung, dass die Krankheit durch den Fernhandel nach Italien gekommen war. Und vom Fernhandel profitierten in der Hauptsache die großen Familien.

Ein Blick nach Mailand, das unter dem Alleinherrscher Visconti allem Anschein nach besser mit der Krankheit zurechtkam, meint Reinhardt, wird die Putschisten zu ihrem Unternehmen motiviert haben.

2020 wird genau diese Frage wieder diskutiert: Können solche Krisen von „starken Männern“ besser bewältigt werden als von demokratischen Systemen mit ihrem komplexen und fragilen Machtgefüge? Im Italien des 14. Jahrhunderts jedenfalls übte das Mailänder Modell auf viele andere Städte seine Faszination aus.

Reinhardt vermutet, dass der Aufstieg der Familie Medici zur Herrschaft über Florenz in den folgenden Generationen ohne die Pest nicht möglich gewesen wäre. Reinhardts Resümee: Die Epidemie hatte nicht nur „die Gleichheit aller Menschen vor dem Tod eindrucksvoll vor Augen geführt“, sie hatte auch „ein für allemal gezeigt, dass nichts auf Erden, keine Führungsstellung von Familien und Schichten und damit auch kein politisches System, für die Ewigkeit geschaffen, sondern alles umstürzbar war“.

 Volker Reinhardt: „Die Macht der Seuche. Wie die große Pest die Welt veränderte“ (C. H. Beck, 256 Seiten, 24 Euro)

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