Daniel Grossmann: ‚In Deutschland fehlt eine Haltung‘

Auf das Jahr 321 n. Chr. datiert ein Dekret aus Köln des römischen Kaisers Konstantin, das erstmals Juden in Deutschland erwähnt. Dieses Jubiläum „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ wird heuer gefeiert. Auch das 2005 gegründete „Jewish Chamber Orchester Munich“ (JCOM) hat einiges geplant: coronabedingt unter Vorbehalt. So soll es am 19. Juli ein Festkonzert im Gasteig geben, ebenso eine sommerliche Tournee durch bayerische Synagogen. Doch wie steht es heute um das jüdische Leben in Deutschland und Bayern? Ein Gespräch mit Daniel Grossmann, dem Leiter des JCOM.

AZ: Herr Grossmann, wie sehr ist Ihnen zum Feiern zumute angesichts jüngster antisemitischer Tendenzen?
DANIEL GROSSMANN: Ich habe mich lange dagegen gewehrt, antisemitische Tendenzen überdramatisieren zu wollen, zumal ich sie in meinem Alltag noch nicht so stark erlebe. Was ich bislang vor allem erlebt habe, ist eine Anti-Israel-Haltung, die pauschal auf alle Juden übertragen wird. Ich sehe allerdings, dass es in letzter Zeit ein zusehends aggressives Verhalten gegenüber Juden gibt. Das kann man mittlerweile nicht mehr leugnen.

Der Pianist Igor Levit berichtet schon länger von antisemitischen Anfeindungen.
Es fällt mir schwer, eine klare Position dazu zu beziehen, weil ich eben nicht diese Anfeindungen im Alltag stark erlebt habe. Unser Orchester hat in 15 Jahren vielleicht zwei antisemitische Botschaften erhalten. Ich stelle mich aber auch nicht auf die Straße und trage eine Kippa. Das scheint ein gewaltiges Problem zu sein, und das ist unerträglich.

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Als Jude in München: „Ich könnte genauso angefeindet werden“

In Berlin trauen sich Juden seit Jahren nicht mehr mit Kippa auf die Straße. Würden Sie sich mit Kippa in die Gegend rund um den Münchner Hauptbahnhof wagen?
Schwierige Frage, tendenziell nein. In Budapest habe ich mal mit einem Freund mit Kippa öffentlich Chanukka gefeiert. Wir wurden getreten und beschimpft. Vor einigen Jahren bin ich in München mit einer Gruppe um den Rabbiner von der Synagoge am Jakobsplatz zu dessen Wohnung im Glockenbachviertel gegangen. Da habe ich als einziger eine Kippa getragen, die anderen Baseball-Mützen. Ich trage keine Kippa und bin von daher nicht eindeutig als Jude identifizierbar. Andererseits stehe ich mit einem jüdischen Orchester in der Öffentlichkeit. Ich könnte also genauso angefeindet werden.

Ist Deutschland aktuell ein beliebtes Ziel für Juden, oder wandern sie inzwischen aus?
Ich sehe nicht, dass Juden aus Deutschland wegströmen wie etwa aus Frankreich. Dort ist die aktuelle Abwanderung durch Zahlen klar belegt. Es gibt überall Antisemitismus. In Deutschland ist definitiv zu spüren, dass er stärker und vor allem salonfähiger wird. Auch wir werden zunehmend vorsichtiger. Bei bestimmten Veranstaltungen wie Kinder- und Jugendkonzerten sprechen wir inzwischen vorher mit der Polizei. Das hätten wir vor 10 Jahren nicht gemacht.

Was läuft falsch?
Ich finde, dass Deutschland eine Haltung fehlt. Für eine Demokratie ist es schwach, nicht für die eigenen Werte einzustehen. Diese sind klar definiert durch unser Grundgesetz. Wer unsere Werte nicht teilen will, ist hier nicht willkommen. Warum müssen wir Menschen in unserer Mitte aufnehmen, die der Meinung sind, dass Frauen, Homosexuelle oder eben Juden nicht gleichberechtigt sind? Gleichzeitig müssen alle die Chance erhalten zu begreifen, in welchem Gesellschaftssystem sie hier leben. Es muss ein anderer Blick auf die Welt vermittelt werden, und zwar selbstbewusst. Das geschieht in Deutschland kaum, weil man sich wegen der NS-Geschichte schnell in der Defensive wähnt.

Unterstützung für das JCOM? „Wir bekommen unglaublich viel Zuspruch“

Fühlen Sie sich mit dem JCOM aufrichtig unterstützt?
Sehr viele Menschen empfinden unser Orchester als eine wichtige Initiative, aber ich hatte auch andere Erfahrungen. Unvergessen ist mir der Politiker einer kleinen Partei, der mir offen ins Gesicht sagte: Sollte jemals dieses Orchester von der Stadt München unterstützt werden, wäre er dagegen. Das ist viele Jahre her. Ich habe das am wenigsten aus dieser politischen Ecke erwartet. Sonst aber bekommen wir unglaublich viel Zuspruch: vom Münchner Kulturreferat, vom bayerischen Kunstministerium und aus der Gesellschaft heraus.

Mit dem JCOM sind Sie ein lebendiger Teil der langen Geschichte des Judentums in Deutschland, und dies in Hitlers einstiger „Hauptstadt der Bewegung“. Erfüllt Sie das mit Stolz?
Ja und nein. Meine Schwester lebt in London. Ihre Tochter besucht dort eine Kita, wo es ganz selbstverständlich ist, dass man Weihnachten und Chanukka feiert. Nun ist die jüdische Gemeinde dort ungleich größer als in München, aber: Es gibt in München zu wenig sichtbare jüdische Kultur, und das kritisiere ich zumal an den jüdischen Institutionen. Mit dem Orchester möchte ich das ein Stück weit ändern. Wir haben in 15 Jahren viel erreicht, aber es gibt noch Luft nach oben. Das gilt übrigens auch für andere Kulturen.

Was wünschen Sie sich?
Eine viel größere Natürlichkeit. Natürlich soll man nicht den Holocaust vergessen, aber es gibt auch andere Aspekte. Wenn ich einen Komponisten wie Viktor Ullmann in den Fokus rücke, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde, sind für mich die Jahre seines Lebens wesentlich wichtiger als seine Ermordung. Seine Werke sollen gehört werden. Erst das bringt ihm seine Würde zurück. Es ist mein persönliches Ziel, dass die Lebendigkeit der jüdischen Kultur wahrgenommen wird und nicht nur das Trauma des Holocaust.

Konzerte kann das Jewish Chamber Orchestra Munich derzeit nicht geben. Wie alle Orchester verstärkt es seine Aktivitäten im Internet: Der YouTube-Kanal des JCOM beinhaltet inzwischen mehr als 60 Videos und nimmt als Archiv für Musik jüdischer Komponisten langsam Form an. Dabei geht es nicht darum, das Konzerterlebnis durch Streaming zu ersetzen, sondern die derzeitige Situation zu nutzen, um einem breiten internationalen Publikum zeitlich und räumlich unabhängig Musik zu präsentieren, die wenig bekannt und wenig gespielt ist.

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