Kurz vor dem Schlusspfiff gibt es einen Elfmeter. Nervös trippelt die Torhüterin auf und ab. Der Fuß der Stürmerin berührt kaum den Ball, da springt die Torhüterin nach rechts. Der Ball landet in der anderen Ecke des Tors – und geht ins Netz. Natürlich konnte die Torhüterin vorher nicht wissen, wohin die Spielerin schießen würde. Die besten Chancen, den Ball zu halten, hätte sie aber, wenn sie in der Mitte des Tors stehen bleiben und erst kurzfristig handeln würde. Allerdings könnte das als Faulheit interpretiert werden, und die Menge würde es ihr kaum verzeihen, wenn sie den Ball auf diese Weise ins Tor lassen würde. Mit dem Sprung in die Ecke hat sie es schließlich immerhin versucht. Auch wenn es die Erfolgschancen schmälert: Sie tut lieber irgendetwas als nichts. Ein wunderbares Sinnbild für unsere Gesellschaft.
Der Action Bias: Hauptsache handeln
Wir feiern vor allem Macher:innen, Menschen, die aktiv werden und Dinge anpacken. Unsere Leistungsgesellschaft suggeriert uns, dass wir bloß ständig etwas machen, ständig produktiv sein sollten. Das Zögern wiederum, das Abwarten und das Nichtstun haben einen ziemlich schlechten Ruf. Warum fällt es uns so schwer, einfach mal nicht zu handeln? Weil wir uns schlicht und einfach besser fühlen, wenn wir etwas getan haben. Und zwar auch, wenn das Tun nicht unbedingt etwas bringt oder die Situation sogar schlimmer macht. Dieses Phänomen heißt in der Psychologie Action Bias.
Dabei wäre es in vielen Situationen deutlich klüger, erst mal die Lage zu überblicken und in Ruhe zu überlegen, anstatt um jeden Preis sofort zu reagieren – siehe Elfmeter. Der Autor Holm Friebe beschreibt genau dieses Konzept in seinem Sachbuch "Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nichts zu tun". Er plädiert dafür, nicht sofort in Aktionismus zu verfallen, sondern erst mal schlicht und einfach gar nichts zu tun. Und das würde uns das Leben an vielen Stellen erleichtern.
Die Stein-Strategie: Nicht-Handeln kann die bessere Handlung sein
Das fängt bereits in kleinen Alltagssituationen an: Wir müssen nicht jede Nachricht sofort beantworten, wenn sie keine explizite Frage stellt. Es kann sogar helfen, Konflikte zu entschärfen oder Missverständnissen vorzubeugen, wenn wir nicht auf jede passiv-aggressive SMS kontern. Sprechen wir das nächste Mal mit der Person, ist das Thema vielleicht gar nicht mehr so wichtig. Oder die Wut hat sich wenigstens ein wenig gelegt, sodass wir sachlicher darüber sprechen können, als es im ersten Moment der Fall gewesen wäre. Es geht dabei nicht darum, Konflikte zu vermeiden, sondern nur darum zu erkennen, dass nicht jede Kleinigkeit es wert ist, darüber zu diskutieren. Und in vielen Fällen erledigt sich das Problem von selbst, mit einer vorschnellen Reaktion würden wir also nur unnötig Energie verschwenden.
Die Stein-Strategie kommt auch in anderen Bereichen zum Tragen. So sollten Anleger:innen an der Börse nicht gleich nervös werden, wenn ein Kurs mal schwankt. Und auch Unternehmer:innen fahren häufig besser mit der Taktik, neue Trends zunächst zu beobachten und aus den Fehlern anderer zu lernen, anstatt sofort selbst aktiv zu werden. Langfristig werden Produkte so meist besser.
Auch im Ernstfall kann Nichtstun die richtige Wahl sein
Das gilt übrigens auch für bestimmte Notfälle. Denn rund drei Viertel der Menschen, die verschollen sind, sterben innerhalb der ersten 48 Stunden. Und zwar nicht, weil sie auf einer einsamen Insel oder im Wald nicht länger überleben könnten, sondern weil sie sich verausgaben, indem sie versuchen, sich eigenständig aus der Situation zu befreien. Viel klüger wäre es oft, einfach abzuwarten, bis das Suchkommando sie findet.
Erst mal die Lage sondieren und dann in Ruhe schauen, was wirklich eine sinnvolle Handlung wäre. Das ist in vielen Fällen die bessere Reaktion. Es gibt auch einen Namen für dieses Prinzip, das aus dem militärischen Umfeld stammt: Der OODA-Loop erklärt, wie wir in schwierigen Situationen Entscheidungen treffen sollten. Die vier Buchstaben stehen für die Begriffe observe, orient, decide, act, auf Deutsch etwa: beobachten, orientieren, entscheiden, handeln. Die meisten Menschen neigen dazu, die ersten beiden Os, also observe und orient beziehungsweise beobachten und orientieren, zu überspringen und gleich ins Handeln zu kommen. Die Entscheidung dazu ist aber in der Regel nicht informiert genug, und es wäre besser, erst mal abzuwarten.
Auch das Gehirn muss mal nichts tun
Nichtstun kann in vielen Fällen klüger sein. Übrigens nicht nur, wenn es um Reaktionen geht, sondern auch aus sich selbst heraus. Denn unser Gehirn kann nur richtig funktionieren und kreativ sein, wenn wir ihm regelmäßig eine Pause gönnen. Die besten Ideen haben wir schließlich nicht umsonst unter der Dusche oder im Urlaub. Dieses Muster lässt sich auch auf unseren (Arbeits-)Alltag übertragen: Acht Stunden aktiv an etwas zu arbeiten, ist in der Regel nicht effizient. Denn wir brauchen Pausen zum freien Nachdenken. Das kann sogar deutlich produktiver sein als das stumpfe Abarbeiten von Dingen. Wenn wir unserem Gehirn den Raum lassen, findet es vielleicht sogar eine bessere Lösung für die vor uns liegende Aufgabe.
Leichter gesagt als getan, denn in unserer Gesellschaft sind wir es gewohnt, ständig etwas zu tun. Wir sind quasi permanent damit beschäftigt, auf Dinge zu reagieren, etwas abzuarbeiten oder uns neue Projekte zu suchen. Hauptsache, wir handeln. Aber wir können lernen, nichts zu machen – und das sollten wir auch dringend. Also: Anstatt die ganze Zeit Dinge zu tun, um ja keinen Stillstand zu haben, können wir uns im Innehalten üben, im Nicht-Handeln. Einfach mal tief durchatmen und überlegen, ob (Re-)Agieren uns in dieser Situation wirklich weiterbringt. Ansonsten den Stein lieber nicht ins Rollen bringen.
Verwendete Quellen: "Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nichts zu tun" von Holm Friebe, spiegel.de, deutschlandfunkkultur.de, madamemoneypenny.de
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