Eine KritikvonChristian Stüwe Diese Kritik stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.
Eine der eindrucksvollsten Szenen der neuen Netflix-Dokumentation „Gladbeck: Das Geiseldrama“ spielt sich abseits des eigentlichen Geschehens ab. Friedhelm Meise, Einsatzleiter der Kripo Gladbeck, wendet sich in einer Pressekonferenz direkt an die anwesenden Journalisten, Fotografen und Kameraleute. „Mein eindringlicher Appell an Sie ist, bis zur Freilassung der Geiseln, bis zur Festnahme der Geiselnehmer, nicht über diese Dinge zu berichten. Es liegt jetzt an Ihnen, das Leben der Geiseln nicht durch Veröffentlichungen zu gefährden“, sagt Meise und wird dabei laut, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.
Eine andere Kamera fängt die Gesichter der anwesenden Medienleute ein. Sie schauen ins Nichts, auf den Boden vor sich oder auf ihre Schreibblöcke. Der Appell des Polizisten kommt nicht bei ihnen an. Denn sie sind längst Teil von einem der spektakulärsten und dramatischsten Kriminalfälle in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geworden und an einer ganz großen Story dran. Lange bevor es Social Media oder Livestreams gab, wurde das „Gladbecker Geiseldrama“ praktisch live in die deutschen Wohnzimmer übertragen. Regisseur Volker Heise hat die alten Aufnahmen nun zu einer eindrucksvollen Dokumentation montiert, die seit Mittwoch auf Netflix abrufbar ist.
RTL-Nachrichtensprecher Hans Meiser rief die Geiselnehmer an Schon unmittelbar nachdem Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski am 16. August 1988 eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck überfallen und den Filialleiter sowie eine Angestellte als Geiseln genommen hatten, klingelte dort das Telefon. „Hier ist Hans Meiser, deutsches Fernsehen. Guten Tag. Wer sind Sie denn?“, fragte der damalige Anchorman der RTL-Nachrichten. „Der Bankräuber“, antwortete Rösner. Als Meisner nach den Fluchtplänen des Gangster-Duos fragte, beendete dieser das Gespräch, das später zur besten Sendezeit auf RTL zu sehen und hören war.
Was unglaublich erscheint, war erst der Auftakt zu einem insgesamt 54 Stunden dauernden Drama, in dem Journalisten den beiden Gangstern auf Schritt und Tritt folgten und diesen näher kamen, als es aus beruflicher Sicht vertretbar war. Ein Fotograf wurde zum Mittelsmann zwischen Geiselnehmern und der Polizei. Während er mit Rösner sprach, schoss er Porträtaufnahmen von dem rauchenden und tätowierten Verbrecher, der gerne für die Kamera posierte. Ein Reporter des „Kölner Express“ stieg sogar in das Fluchtauto und half den Verbrechern, den Weg aus Köln zu finden, wohin sie ihre Flucht zwischenzeitlich geführt hatte.
Start der vierten Staffel: "Stranger Things" wird erwachsen – und richtig düster Reporter interviewten die Geisel Silke Bischoff Endgültig alle Grenzen wurden überschritten, als Reporter die später erschossene Geisel Silke Bischoff interviewten, während ihr Degowski eine Pistole an den Hals hielt. Die Todesangst war in diesem Moment in den Augen der 18-Jährigen zu sehen. Die Netflix-Dokumentation zeigt alle diese Bilder, kommentiert sie aber nicht. Es werden auch keine Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt oder Szenen nachgestellt. Regisseur Heise lässt einfach die alten Bilder wirken, teilweise in schlechter Qualität und im damaligen 4:3-Fernsehformat, was sie aber nicht weniger eindrucksvoll macht.
Vor allem Hans-Jürgen Rösner, dem die Aufmerksamkeit der Medien sichtlich gefiel, suchte immer wieder die Nähe der Reporter. Nachdem die beiden Verbrecher und ihre Komplizin Marion Löblich in Bremen einen Stadtbus entführt hatten, gab Rösner vor Ort eine improvisierte Pressekonferenz, mit der Pistole in der Hand. „Wir werden Forderungen stellen. Und werden die nicht erfüllt, dann knallt et. Wir ham abgeschlossen mit’m Leben“, sagte der Geiselnehmer im lokalen Dialekt des Ruhrpotts. Wenig später schob er sich vor dutzenden Kameras die Pistole in den Mund, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren.
Dieses Bild war in allen Nachrichtensendungen und Zeitungen zu sehen, die Medien überboten sich gegenseitig in ihrer Sensationslust. Der Presserat legte deshalb später fest, dass Journalistinnen und Journalisten sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen dürfen, und dass es keine Interviews mit Tätern während eines laufenden Tatgeschehens geben darf.
„Gladbeck: Das Geiseldrama“ ist eine Mahnung, wohin Sensationslust führen kann Die Bilder, die damals entstanden, sind zweifellos voyeuristisch und eine Grenzüberschreitung. Die selbstgefälligen Verbrecher bekamen eine Bühne, die Kameras hielten drauf, als der von Degowski angeschossene und wenig später verstorbene 15 Jahre alte Emanuele di Giorgi um sein Leben kämpfte. Die unverständliche Abwesenheit von Polizei und Rettungskräften wurde ebenso dokumentiert wie die Menschenmassen, die sich nach dem finalen Zugriff eines Sondereinsatzkommandos auf einer Autobahnbrücke drängten, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.
Dass diese Bilder nun noch einmal für das Netflix-Publikum aufbereitet werden, kann man durchaus kritisch sehen. Aber es gelingt Regisseur Heise, dies auf eine Art und Weise zu tun, die eher nachdenklich macht. Die Bilder wirken wie Vorboten einer immer härteren Medienlandschaft, die immer näher am Geschehen sein will. Heute ist es schließlich fast schon normal, dass es von jedem Verbrechen und von jedem Unfall mit dem Smartphone gedrehte Videos gibt. „Gladbeck: Das Geiseldrama“ ist deshalb einerseits ein sehenswertes Stück Zeitgeschichte und gleichzeitig eine Mahnung davor, wohin zu viel Sensationslust führen kann.
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