Dieser "Tatort" aus Bremen ist klug konstruiert – vielleicht zu klug

Im Bremer Hafen wird ein selbstloser Samariter brutal erschlagen. Er ist nicht der Einzige, der ein Geheimnis mit sich herumtrug. Die neuen Bremer Ermittler haben mit eigenen Schatten der Vergangenheit zu kämpfen. „Und immer gewinnt die Nacht“ ist ein überfrachteter „Tatort“ mit einem vielversprechenden, aber steifen Team.

Eine KritikvonIris Alanyali

Diese Kritik stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

Es gibt wahnsinnig viel zu tun in diesem „Tatort“: Im Hafen liegen ein Toter und ein Frachter. Im Krankenhaus liegt ein Komapatient. Ein Familienunternehmen muss gerettet und eine junge Liebe geprüft werden.

Und über allem lastet so viel Vergangenheit! Vergangenheiten, mit denen gerungen, abgeschlossen, Frieden gemacht wird oder die überwunden werden wollen – die Biografien der Beteiligten stapeln sich wie die Container im Bremer Hafen. Sie liegen schwer auf Schultern und auf dem zweiten Fall für das neue Bremer Ermittlerteam.

Und das befindet sich ja noch in der Einführungsphase, da gibt es ja auch noch so viel zu erzählen und anzudeuten!

„Tatort“ aus Bremen im militärischen Erzählstil

Vermutlich hat sich Drehbuchautor Christian Jeltsch deshalb zu einem militärischen Erzählstil entschlossen. Unterhaltungen in Stichworten, mit Ein-Wort-Fragen und Kaum-Wort-Antworten („Obduktion?“ „Noch nicht durch.“ „Hunger?“ „Ja.“). Das spart Zeit.

Und Regisseur Oliver Hirschbiegel unterstützt diesen „Tatort“ im Kasernentakt, indem er auf kurze Schnitte und eine semi-dokumentarische Kamera setzt.

Los geht es mit dem Toten im Hafen. Björn Kehrer (Markus Knüfken) war Arzt, und zwar einer von den ganz guten, mit langen Schlangen vor der Praxis und viel Verständnis dafür, dass man manchmal eben einfach stärkere Pillen und Psychopharmaka braucht. Schon, weil er sie selber nimmt.

Aber ihm reichen die nicht, das sehen wir kurz vor seinem Tod, als er sich ein Feuerzeug mit brennender Flamme unters Handgelenk hält, ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal. Da will sich einer bestrafen, oder da fühlt jemand sonst nicht mehr viel.

Irgendein Geheimnis verbirgt sich also auch in der Biografie des Samariters – und dann wird er erst überfahren und direkt danach erschlagen. Offenbar fühlt da jemand ziemlich viel und sorgt für die Bestrafung.

Die Verdächtigen: Zuerst die Besatzung des Frachters „Always Lucky“ – lauter Männer mit Tattoos und/oder osteuropäischem Akzent. Außerdem Kirsten Beck (Lisa Jopt), die Sprechstundenhilfe des Arztes – eine Alleinerziehende, die in ihren Chef verknallt und bestechlich war.

Und Ann (Anna Bachmann), die Schwester von Hendrik (Ole Bramstedt), den Kirsten Beck vor der Praxis weggeschickt hat und der jetzt im Koma liegt. Ann hat keinen Akzent, aber sie ist vorlaut und vorbestraft und hat Charlotte Aufhoven (Karoline Eichhorn) die Tochter weggenommen.

Dabei wollte Vicky (Franziska von Harsdorf) doch gerade das Familienunternehmen der Aufhovens retten. Jetzt hilft sie stattdessen gemeinsam mit ihrer geliebten Ann den Bremer Bedürftigen – welches dunkle Familiengeheimnis trägt sie wohl mit sich herum? Verarmte Familien in vornehmen Villen sind bekanntlich die Allerverdächtigsten.

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Kommissar Mads Andersen hat eine mysteriöse Vergangenheit

Die Motive stapeln sich also mindestens so hoch wie die Vergangenheiten. Zudem muss Kommissar Mads Andersen (Dar Salim) sich auch noch mit einem Schatten aus seiner eigenen Vergangenheit als Undercover-Cop herumschlagen.

Einem Schatten, der ihn in Gestalt des jungen Adil Helveg (Issa Khattab) verfolgt, gefährlicherweise mit finsterem Blick und Teppichmesser in der Hand.

Wer bestimmt, was wir sind? Was bestimmt, wer wir sind? Unsere Vergangenheit? Unsere Herkunft, Familie, Gene? Unsere Taten von heute oder von damals? Herz oder Hirn? Man wird ja wohl noch fragen dürfen. Aber wer an Antworten interessiert ist, der hat es nicht so eilig wie dieser „Tatort“.

Auf solche Fragen gibt es keine knappen Antworten, und wenn doch, dann arten sie in Krimi-Küchenphilosophie aus: Jeder kann zum Mörder werden, Leidenschaft macht blind, alle Menschen sind im Grunde böse, – halt, nein, doch nicht alle: Streuen wir ein, zwei Hoffnungsträger ein, die gerade noch rechtzeitig auf die gerade Bahn gezerrt werden können.

Dieser „Tatort“ ist klug konstruiert

Von Christian Jeltsch stammte schon das starke erste Drehbuch für das neue Bremer Team. Auch „Und immer gewinnt die Nacht“ ist klug konstruiert – vielleicht zu klug, denn wenn zu viele Fragen auf zu viele Figuren verteilt, möglichst viele Aspekte möglichst gleichmäßig in möglichst vielen Biografien versteckt werden, dann werden sie dadurch nicht interessanter, sondern gleichgültig.

Wie soll man Anteil nehmen, wenn man kaum Zeit bekommt, die Betroffenen kennenzulernen?

Natürlich umfasst die Vergangenheitsforschung auch die noch relativ unbekannten Ermittler. Mads Andersens Undercover-Story wird weiter enthüllt, an Liv Moormanns Proletarierherkunft wird erinnert. Die kühle Linda Selb (Luise Wolfram) lässt sich weiter von ihrer eigenen analytischen Scharfsinnigkeit zu emotionaler Gleichgültigkeit hinreißen.

Immerhin: Sie und die ehrgeizige Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) beenden während der Ermittlungsarbeit gegenseitig ihre schlussfolgernden Sätze. Allerdings steckt hier weniger Verbundenheit dahinter, sondern ein intellektueller Wettkampf. Der immerhin zu gegenseitigem Respekt führt.

Aber anders als im ersten Fall „Neugeboren“ wirken die frotzelnden Dialoge gewollt. „Und immer gewinnt die Nacht“ wirkt zu getrieben, verwechselt Tempo mit Hetze, Verzwicktheit mit Überladenheit und Coolness mit hölzerner Kopflastigkeit.

Und doch: Dass das Bremer Dreiergespann ein ganz starkes Team ist, daran besteht auch nach diesem „Tatort“ kein Zweifel. Die Dreharbeiten für den dritten Fall wurden gerade abgeschlossen, im kommenden Sommer soll er ausgestrahlt werden. Zeit zum Durchatmen.

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