Soziologe über Rammstein-Skandal: "Da rührt sich die männliche Macho-Volksseele"

Warum manche Männer in der Debatte um Rammstein ihren „inneren Till Lindemann“ entdecken, sich in ihrer Männlichkeit bedroht fühlen und ob man bei Lindemanns Texten hätte genauer hinschauen müssen, erklärt der Soziologe und Sozialpsychologe Rolf Pohl im Gespräch mit unserer Redaktion.

  • Ein InterviewvonPatricia Kämpf

    Herr Pohl, ich habe in einem Artikel gelesen, dass manche Männer in der Rammstein-Debatte ihren „inneren Till Lindemann“ entdeckt haben. Was sagen Sie zu dieser Aussage?

    Rolf Pohl: Es gibt zwei große Nachrichten aus den vergangenen Wochen, die eng zusammenhängen: Das eine ist der Lindemann-Fall und das andere die sicherlich nicht ganz unproblematische, aber doch viel Aufsehen erregende Studie von Plan International Deutschland unter jungen Männern zwischen 18 und 35 Jahren. Zwischen beiden Nachrichten gibt es einen Zusammenhang, weswegen diese Erkenntnis, man entdecke seinen inneren Till Lindemann in sich selbst, ein Stück weit zu den Umfrageergebnissen passt: Der Mann ist demnach immer noch das bevorrechtigte, das überlegene, das wichtigere Geschlecht, das alle Entscheidungen treffen muss. Das geht bis hin zu dem Punkt, der den größten Skandal ausgelöst hat: Ein Drittel der Männer aus der Plan-International-Umfrage stimmt der Ausübung von Gewalt in Partnerschaftskonflikten zu – was auch zu diesem klassischen, eher machohaften Männlichkeitsbild gehört. Genau dieses Bild repräsentiert Lindemann, und wenn jemand nun sagt, er entdecke seinen inneren Lindemann, hängt das ein Stück weit damit zusammen. Diese alten Männlichkeitsbilder können immer wieder wachgerufen werden – durch bestimmte Anlässe oder auch durch Gegenbewegungen gegen gleichstellungspolitische Fortschritte. Da rührt sich dann die männliche Macho-Volksseele und man solidarisiert sich mit jemandem wie Lindemann. Das ist aber problematisch.

    Inwiefern?

    Diese klassische, machohafte Männlichkeitsattitüde, zu der die Bilder von einer starken, potenten, erfolgreichen, durchsetzungsvermögenden, dominanten und von Härte geprägten Männlichkeit gehören, ist immer noch sehr verbreitet. Und das ist natürlich hochproblematisch.

    Wir leben ja eigentlich in einer gleichberechtigten Gesellschaft.

    Ja, wir denken, wir sind viel weiter, aber in Wirklichkeit sind wir das gar nicht. Das zeigt auch die Solidarität mit Rammstein, denn erschreckend ist gerade die hohe Zustimmung, die sich etwa bei den Konzerten in München gezeigt hat. Nur wenige haben ihre Karten zurückgegeben, und die Frauen, die bei einer Gegendemonstration vor dem Stadion waren, wurden angepflaumt und angemacht und mussten sich Sätze anhören wie „Mit euch will sowieso keiner schlafen“. Das reproduziert dieses sehr machohafte und klassische Frauenbild, das offensichtlich auch bei Lindemann zum Ausbruch gekommen ist. Viele Menschen können da offenbar mitfühlen, so etwa auch der Musikmanager Thomas Stein bei „Hart aber fair“. Was er da gesagt hat, war eine reine Rechtfertigung auf der Basis einer offenbar ähnlichen, fragwürdigen Geschlechtereinstellung. Hier lässt sich eine Mischung aus Verharmlosung und Legitimierung erkennen.

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    „Auf Basis einer überholten Macho-Solidarität wird Lindemanns Verhalten gerechtfertigt“

    Können Sie das konkretisieren?

    Auf der Basis einer überholten Macho-Kumpanei wird Lindemanns Verhalten gerechtfertigt. Und eigentlich auch gehuldigt, wenn man an Steins Worte denkt: Ein Mann mit 60 solle noch so potent sein, dass er auf der Bühne rumrenne und sich verausgabe und dann – der Ausdruck, den er dafür verwendet hat, war so treffend, signifikant und typisch – unter der Bühne jemanden „beglücke“? Als ginge es darum, Frauen, die in diesen Raum gezogen werden, zu „beglücken“! Da geht es um erzwungenen oder erwünschten Oralverkehr. Wenn dieses Szenario stimmt, will Lindemann in der kurzen Pause selbst „beglückt“ werden und jemanden dazu zwingen. Das ist aber etwas anderes, als das so hinzustellen, als sei der Mann, der Frauen sexuelle Gewalt antut, eigentlich derjenige, der die Frauen „beglückt“. Das ist ein klassisches Bild, das zu dieser Macho-Prägung dazugehört. Und das so zu rechtfertigen, wie Thomas Stein es getan hat, halte ich für die Legitimierung von Übergriffigkeit.

    Das geht auch in die Richtung von den Leuten, die sagen „Was haben die Frauen, die da mitgehen, denn erwartet?“.

    Bei der Frage „Was haben die denn erwartet?“ steckt mit drin, dass man davon ausgeht, dieses Szenario wäre normal. Das hat Thomas Stein auch getan, als er gesagt hat, auch bei Heino oder Roberto Blanco hätte es diese Zone gegeben. Oder Dieter Nuhr, der argumentiert hat, es sei doch klar, dass die dort keinen Stuhlkreis machen würden, sondern dass es zur Sache gehe. Also mir ist das nicht klar! Wenn Mädchen jemanden anhimmeln, warum muss dann ein übergriffiges Klima entstehen, wenn sie zu einer Party eingeladen werden? Das ist doch nicht das, was von den Frauen gewünscht wird. Natürlich kann man ihnen Naivität vorwerfen, aber so zu argumentieren und das den Frauen anzulasten, ist ein Stück weit Täter-Opfer-Umkehr: Sie sind selbst schuld, warum gehen sie da überhaupt hin? Warum ziehen sie sich kurze Röcke an? Aber sie sollen ja sogar gezwungen worden sein, sich in gewisser Weise aufreizend und sexy und nach den „gängigen männlichen Klischees“ anzuziehen. Das entspricht dem Weiblichkeitsbild von Lindemann, wenn man sich seine Shows anschaut, seine Inszenierung, seine Gedichte und seine Lieder: Frauen sind zur Ausstellung bestimmte Waren und möglicherweise auch – das muss jetzt natürlich überprüft werden – Objekte des tatsächlichen, faktischen Zugriffs.

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    von Patricia Kämpf

    Hätte man genauer hinschauen müssen bei Lindemanns Texten und seinen Bühnenshows?

    Ja, denn das ist geschmacklos und transportiert ein Bild von Weiblichkeit, das eigentlich aus der Zeit gefallen sein sollte. Gleichzeitig ist es der Versuch, das alte phallische Männlichkeitsbild wieder zu etablieren – besonders zu erkennen an Lindemanns Vergewaltigungsgedicht, aber auch an Songs wie „Pussy“ oder „Dicke Titten“ sowie an seinem frauenverachtenden und sadistischen Hardcoreporno „Till the End“. Die Frage ist, ob sich aus diesen Selbstdarstellungen und den darin zum Ausdruck kommenden Einstellungen eine lineare Erklärung für die mutmaßlichen Zugriffe ableiten lässt. Da muss man natürlich vorsichtig sein. Die Unterscheidung zwischen dem lyrischen Ich und dem realen Ich aber, die Lindemanns ehemaliger Verlag Kiepenheuer & Witsch gemacht hat, ist höchst problematisch – denn die Grenze scheint zumindest fließend zu sein, bei aller Vorsicht, wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten sollten. Dennoch war es naiv, als namhafter deutscher Verlag unkommentiert Vergewaltigungsfantasien in Gedichtform herauszubringen und sich damit zu entschuldigen, dass das lyrische Ich mit der realen Person gar nichts zu tun hat. Das ist fahrlässig.

    In der ganzen Debatte fällt auch immer wieder das Wort Groupies. Sind Groupies auf der einen Seite, die es seit den Sechzigerjahren gibt und die sich freiwillig auf ihre Stars einlassen, und die teilweise sehr jungen Mädchen auf der anderen Seite, die für Rammstein gecastet worden sein sollen, das Gleiche?

    Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Die klassischen Groupies, die es teilweise darauf anlegen, es genießen und dort ihre Anerkennung finden, sind etwas anderes als die ganz jungen Mädchen, die gar nicht genau wissen, was ihnen da eigentlich passiert. Sie gehen zwar freiwillig mit, wissen aber nicht, was ihnen droht. Wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten sollten, ist das Manipulation zur Zulieferung von Objekten für sexuelle Übergriffe.

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    Rolf Pohl: „Klares Indiz von Täter-Opfer-Umkehr“

    Die Mädchen, die jetzt ihre Erfahrungen bei Rammstein-Konzerten öffentlich machen, sind trotzdem großen Anfeindungen ausgesetzt, bekommen teilweise Morddrohungen. Damit sind wir wieder bei der Täter-Opfer-Umkehr, oder?

    Genau, das ist ein eindeutiges, klares Indiz für eine Täter-Opfer-Umkehr. Dass die Opfer mit dem Tode bedroht werden, weil sie am Heiligtum Rammstein und vor allem Lindemann kratzen, ist unfassbar. Auch Thomas Stein hat Lindemann mit seiner Aussage zum Denkmal erhoben, als er gesagt hat, wenn Lindemann wirklich noch so potent ist und jemanden unter der Bühne „beglücken“ kann, muss er als Denkmal für Potenz ins Museum gestellt und angebetet werden. Diese Kumpanei ist die Solidarität mit der Idee: Männer müssen sozial und sexuell immer potent sein und ihre Potenz zeigen. Wenn ihnen das aber vorgeworfen wird, so wie in diesem Fall, greifen die Mechanismen von Täter-Opfer-Umkehr: Das Opfer wird dafür verantwortlich gemacht, weil es den Nimbus der Heiligenfigur zerstört – und deswegen mit dem Tode bedroht.

    Fühlen sich Männer, die so reagieren, in ihrer Männlichkeit bedroht?

    Das kann man so sagen, unbewusst auf jeden Fall, obwohl sie das natürlich abstreiten würden. Lindemanns Bühneninszenierung mit der Phallus-Kanone oder wenn er sich das Mikrofon als verlängerten Penis hinhält, ist natürlich phallisch und hat sehr stark mit dem männlichen Selbstbild zu tun. Wer Lindemann jetzt unterstützt, ahnt, dass es auch um die Infragestellung der starken, dominanten Männlichkeit geht, wie sie Figuren wie Lindemann repräsentieren. Und natürlich geht es auch um die eigene Männlichkeit. Die angeblich tiefe Krise der Männlichkeit wurde in den vergangenen Jahren immer wieder diskutiert – diesen gesellschaftlichen Diskurs darf man nicht außer Acht lassen. In der Untersuchung von Plan International Deutschland heißt es, fast 90 Prozent der Männer wären mit ihrem Männlichkeitsbild eigentlich einverstanden. 95 Prozent sagen aber, dass sie den Druck verspüren, sich zu ändern – was sie aber eigentlich gar nicht wollen. Sie wollen so bleiben, wie sie sind. Für viele Männer ergeben sich daraus Fragestellungen: Was darf man überhaupt noch? Denn man darf als Mann jetzt nichts mehr sagen, man darf nicht mehr flirten, man darf Frauen keine Komplimente mehr machen, man darf ihnen nicht mehr hinterherpfeifen. Viele Männer leiden darunter, dass an diesem sehr klassischen Männlichkeitsbild sehr stark und schon lange Kritik geübt wird, wodurch sie orientierungslos werden. Populisten politisieren diese Litanei, wie zum Beispiel Björn Höcke von der AfD, der 2015 gesagt hat, die Deutschen und Europa hätten ihre Männlichkeit verloren und die müsse wiedergewonnen werden, weil wir stark werden müssten, denn nur wenn wir stark wären, wären wir wehrhaft. Dem liegt das gleiche Modell zugrunde: Die Männlichkeit ist in Gefahr geraten und sie muss gerettet werden. Das Problem ist aber, dass dafür die Frauenbewegung, der Feminismus und die Fortschritte in der Gleichstellungspolitik verantwortlich gemacht werden. Wenn dann jemand tatsächlich auch Gewalt ausübt oder übergriffig wird, gibt es unterschwellig eine Form von unbewusster Solidarität.

    Prof. Dr. Rolf Pohl ist ein deutscher Soziologe und Sozialpsychologe.© Isabelle Hannemann

    Wie wichtig ist die aktuelle Diskussion? Wie wichtig ist es, dass sich junge Mädchen hinstellen und davon erzählen, was ihnen passiert ist? Kann sich was ändern?

    Das ist wichtig, aber an einer nachhaltigen Wirkung habe ich meine Zweifel. Wir hatten diese Debatten immer wieder, zum Beispiel 2013, als es zur Himmelreich-Brüderle-Affäre kam. Rainer Brüderle war damals Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag, als er mit der Journalistin Laura Himmelreich an einer Hotelbar stand und zu ihr sagte, sie könne mit ihrem Ausschnitt auch ein Dirndl ausfüllen. Sie hat das öffentlich gemacht und daraus ist eine Sexismusdebatte entstanden. Das ist wichtig gewesen, genauso wie die MeToo-Kampagne seit einigen Jahren wichtig ist. Ich habe nur den Eindruck und die Sorge, dass das alles folgenlos bleibt, weil wir nicht wirklich an die dahinter liegenden, tief sitzenden Strukturen im Geschlechterverhältnis herangehen und versuchen, tatsächlich etwas zu ändern. Diese Debatten werden oft ein, zwei Wochen lang intensiv geführt – in jeder Zeitung, in jeder Talkshow, in jedem Radioprogramm. Und dann zerplatzen sie wie eine Seifenblase. Wir sind auch nicht so modern, wie wir glauben. Das sieht man immer wieder an den Gegenbewegungen gegen Transformation und Modernisierung der klassischen Strukturen und damit auch des klassischen Männlichkeitsbildes und der Einstellung zu Frauen und zur Weiblichkeit.

    Man liest im Lindemann-Fall immer wieder das Wort Machtgefälle. Was ist damit gemeint?

    Das halte ich für eine wichtige Diskussion, denn es wird argumentiert, dass es hier in erster Linie nur um Machtmissbrauch geht, dass mächtige Männer ihre Macht missbrauchen. Das ist aber gefährlich, denn dann sind wir – wie bei MeToo – immer nur dabei, zu schauen, welcher Prominente als nächstes entlarvt wird. Es ging los mit Donald Trump, dann folgten Harvey Weinstein und Jeffrey Epstein, oder Dieter Wedel in Deutschland. Alles berühmte, wichtige und mächtige Männer, die ihre Macht missbrauchten, um ihre Übergriffe gegen Frauen zu rechtfertigen. Das machen aber nicht nur mächtige Männer. Alltagssexismus gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft, in allen Feldern und sozialen Milieus, was wiederum mit dem vorherrschenden Männlichkeitsbild und dem Geschlechterverhältnis zu tun hat. Wenn man sich allerdings nur auf die Machtproblematik fokussiert, wird ein Punkt vergessen: Was haben die Lust und die Sexualität mit allem zu tun? Denn es geht ja offensichtlich auch um die Inszenierung und die Organisierung der Befriedigung von Lust und Sexualität. Die Macht wird ein Stück weit dazu gebraucht, aber die Sexualität wird nicht nur benutzt, um die Macht zu bestätigen. Es geht auch um Sexualität und genau das ist das Problem: Männer nehmen sich die Macht, ihre Sexualität in einer Weise zu befriedigen, die dieses ganz bestimmte, abwertende Frauenbild bestätigt – das Bild von der Frau als Objekt der männlichen Fantasie und als Opfer des männlichen Zugriffs.

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    von Patricia Kämpf

    Geht es in dem Fall um sexuelle Gewalt oder sexualisierte Gewalt?

    Es geht um beides. Gewalt und Macht werden benutzt, um sexuelle Befriedigung zu erlangen – und umgekehrt. Deswegen müssen wir beides gleichzeitig denken, weil ein bestimmtes Selbstbild von Männlichkeit in einer Gesellschaft und Kultur, in der eine männliche Vormachtstellung verankert ist, immer noch verbreitet ist. Und zu diesem Selbstbild von Männlichkeit gehört auch die Misogynie, ein feindseliges Bild gegenüber Frauen. Wir werden in unserer Gesellschaft sozusagen alle programmiert darauf, dass der überwiegende Teil heterosexuell ist und Heterosexualität die Norm. Diese Norm bedeutet für das männliche Bild von selbstherrlich, autonom, unabhängig, stark und dominant gleichzeitig auch eine Infragestellung dessen. Denn Männer sind vor allem auf dem Gebiet der Sexualität abhängig von den Frauen, auf die sie programmiert werden. Und hieraus muss ein Weg gefunden werden, damit daraus keine Bedrohung entsteht. Denn Frauen haben mit ihrer Sexualität eine große Macht über Männer – Männer sind nirgends schwächer als auf dem Feld der Sexualität, entgegen dem traditionellen Bild von überlegener, starker und potenter Männlichkeit. Und das wird den Frauen auch gezeigt. Ich habe mich in meiner Forschung viel mit sexueller Gewalt beschäftigt und bin zu einer These gekommen: Hinter allen Formen von sexueller Gewalt, sexueller Ausbeutung, Verführungs- und Manipulationstechniken – wie es etwa Pick-up-Artists machen, um Frauen ins Bett zu kriegen – steckt ein Stück weit der Versuch, einen Weg zu finden, dass Frauen für Männer keine Bedrohung mehr sind. Wenn man das zuspitzt, werden die Frauen für die Lust bestraft, die sie in den Männern auslösen. Denn dem Mann droht die Gefahr der Schwächung: Die Frau kann „Nein“ sagen, sie kann sich verweigern, sie kann die Beziehung beenden, sie kann abhauen. Der Mann ist also in hohem Maße von den Reaktionen und Gegenreaktionen der Frau abhängig, sofern er heterosexuell ist. Und das macht ihn schwächer, als er das in seinem Selbstbild ist.

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    Reaktionen auf Fälle wie den von Lindemann oft interessanter als der Fall selbst

    Gehen wir nochmal konkret zurück zu den Vorwürfen gegen Rammstein. Können Sie aus soziologischer Sicht erklären, wie so ein System überhaupt entstehen kann, dass Till Lindemann Frauen zugeführt worden sein sollen und niemand im Umfeld der Band und der Konzerte etwas mitbekommen haben möchte? Der Schlagzeuger Christoph Schneider hat ja etwa gesagt, er habe nie etwas beobachtet, was justiziabel sein könnte.

    Das ist natürlich eine schwere Frage. In der Geschlechterforschung wird davon ausgegangen, dass traditionelle Muster von hegemonialer Männlichkeit kulturell sehr tief verankert sind und sich in jedem Mann in der Sozialisation neu reproduzieren – trotz aller Modernisierung. Nehmen Sie als Beispiel Jungs in der Grundschule, die in der 1. Klasse schon Smartphones haben, darauf Pornos schauen und dann ganz verstört sind: Frauen werden als Verfügungsmasse für das Begehren des Mannes gezeigt, aber die Jungs wissen noch gar nicht, was das bedeutet. Gleichzeitig lernen sie das übelste Schimpfwort „schwul sein“. Auch hier wissen sie nicht, was es bedeutet. In der Pubertät erschließt sich den jungen Männern dann langsam die Bedeutung, und viele kriegen das Grausen. So kann Homophobie entstehen oder verstärkt werden. Hier kommen viele Einflüsse in der Sozialisation zusammen. Natürlich spielen auch die Medien und insbesondere das Internet eine unglaubliche Rolle, vor allem die Pornografisierung des Alltags mit einem ganz bestimmten Geschlechterbild. Deswegen war die Umfragen von Plan International Deutschland so überraschend und erschreckend, weil über 30 Prozent der befragten Männer gesagt haben, sie fänden Gewalt gegen Frauen akzeptabel. Heutzutage ist es doch eher ungewöhnlich, so etwas so offen zuzugeben. Deswegen deutet die Antwort darauf hin, dass es möglicherweise sogar noch viel schlimmer ist, Stichwort soziale Erwünschtheit in Umfragen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht vom Habitus, also dass die Männer in diesem Fall bestimmte Einstellungen so sehr verinnerlicht haben, dass sie mit ihrem Bewusstsein und auch verbal gar nicht so schnell realisierbar und verbalisierbar sind. Das merkt man daran, wie Menschen auf solche Fälle wie den von Lindemann reagieren – die Reaktionen sind oft noch interessanter als die eigentlichen Fälle. Die sind viel weniger überraschend.

    Müsste man, um etwas ändern zu können, also schon viel früher anfangen?

    Genau, bei den elterlichen Vorbildern, beim Klima in der Schule, aber vor allem auch bei Medienpädagogik und Medienkompetenz. Wenn Sie alleine daran denken, dass es sofort einen Aufschrei vonseiten der Eltern gegen eine angebliche Frühsexualisierung der Kinder gibt, wenn es ein Lehrer in der Schule wagt zu vermitteln, dass es andere Formen von sexuellen Beziehungen gibt als nur die Heterosexualität – als würden Kinder, wenn sie von Homosexualität erfahren, selbst sofort schwul werden. Das ist ja völliger Quatsch! So argumentiert ja etwa auch eine restriktive, rückwärtsgewandte Sexualpädagogik, ganz schlimm ist das in Russland. Dort dürfen sich Männer auf der Straße nicht die Hand geben oder sich küssen, weil das ansteckend sein soll. Da muss also sehr früh angesetzt werden und das Bild vermittelt werden, dass es zwischen männlich und weiblich zwar Unterschiede gibt, aber diese Unterschiede nicht mit Bewertungen in „überlegen“ und „unterlegen“, in „wichtiger“ und „unwichtiger“ verbunden sind, sondern dass sie sich auf Augenhöhe mit gegenseitigem Respekt begegnen. Das ist ja auch interessant, es gibt ja auch die Neugier gegenüber dem sogenannten anderen Geschlecht. Wenn aber diese Neugier in die Idee mündet, ich muss mich davor schützen und Abwehrstrategien entwickeln, bis hin zu Gewalt, dann ist es schon zu spät. Wir müssen wegkommen von der Diskussion, man dürfe heutzutage nicht mehr flirten, Männer dürften Frauen keine Komplimente mehr machen. Natürlich dürfen Männer mit erotischen Elementen flirten, das ist ein wechselseitiges Spiel. Es ist aber nur dann erotisch, wenn es auf Augenhöhe basiert, und das ist es beim Hinterherpfeifen auf der Straße eben nicht. Hier wird die Frau wieder zum Objekt der männlichen Begierde und, wenn sich die Gelegenheit bietet oder eine solche, wie offensichtlich im Falle Lindemann, systematisch arrangiert wird, zum Objekt des Zugriffs gemacht.

    Verwendete Quellen:

    • Plan International Deutschland: Spannungsfeld Männlichkeit
    • Studie: Ein Drittel der jungen Männer findet Gewalt gegen Frauen akzeptabel

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