Bei einem Treffen vor zwei Jahren sagte sie: "Irgendwann werden wir uns sicher wieder einmal an der Alster sehen." Diesen Sommer, nach meinem Lauftraining, kam Jil Sander mir entgegen. Wie immer ein warmes, inspirierendes Gespräch. "Wir sprechen wieder!", sagte sie zum Abschied. Vorige Woche dann der Anruf der größten deutschen Designerin. Sie wollte GALA eines ihrer seltenen Interviews geben, denn am 27. November wird sie 80 Jahre alt. Stolz schaut sie auf eine einzigartige Karriere zurück. Jil Sander baute ein Weltunternehmen auf und beeinflusst mit ihrem minimalistischen Stil noch immer die Mode, auch wenn sie sich voriges Jahr nach der Kooperation "+J" mit dem japanischen Textilgiganten Uniqlo aus der Fashionwelt zurückgezogen hat. Aktuell arbeitet sie an einem Buch.
Jil Sander im großen GALA-Exklusiv-Interview
GALA: Frau Sander, mögen Sie eigentlich Geburtstage?
Jil Sander: Nicht besonders. Ich verreise dann meistens.
Sie werden 80 Jahre alt. Bedeutet Ihnen die Zahl denn gar nichts?
Im Gegenteil, es ist irritierend, denn an meinem Selbstwertgefühl hat sich über die Jahre wenig verändert.
Welche Lebensphase fanden Sie rückblickend am spannendsten?
Vielleicht die des Aufbaus meines Hauses, als sich der Einsatz gelohnt hat und die Dinge sich schnell in die richtige Richtung vorwärts bewegten.
Gibt es Dinge, die Sie heute gelassener nehmen?
Natürlich. Heute sagt mir die Erfahrung vorab, was ich früher erst ausprobieren und durchleben musste. Ich kann Herausforderungen schneller einschätzen.
Das bedeutet Mode für die Designerin
Was haben Sie im Lauf ihres Lebens über die Rolle von Mode gelernt?
Sie ist enorm wichtig, denn sie verrät viel über Selbstachtung.
Welche Einstellung zu unserer Bekleidung hat sich geändert?
Vieles hat sich verbessert. Wir tragen Mode nicht mehr, weil sie im Trend ist, sondern weil sie uns gefällt. Aber es wird noch heute oft unterschätzt, was sie für uns tun kann.
Warum ist es denn Ihrer Meinung so wichtig, Mode und seinen eigenen Kleidungsstil ernst zu nehmen?
Weil wir so die Kontrolle darüber gewinnen, wie wir auf andere wirken.
Beurteilen Sie andere auch danach, wie sie sich kleiden?
Das tun wir alle, auch wenn es oft unbewusst bleibt.
Sie gelten als detailversessen, kompromisslos bei Ihrer Arbeit. Woran liegt das, und ist das noch immer so?
Es kommt auf die Details an. Wenn da etwas nicht stimmt, wird das Ganze entwertet. Das habe ich früh gelernt und entsprechend ein Leben lang die sogenannten kleinen Dinge mit Sorgfalt behandelt. Ihre Ausführung ist fast wie ein Code, den ich mit Jil-Sander-Trägerinnen und -Trägern teile.
Gibt es einen Charakterzug, den man an Ihnen immer unterschätzt oder nie so richtig wahrgenommen hat?
Ich gelte als scheu, was nicht ganz falsch ist, aber ich bin gleichzeitig sehr entschlossen und unerbittlich, wenn ich ein Ziel anstrebe.
Wie keine andere deutsche Designerin haben Sie international die Bedeutung von Mode verändert. Worauf sind Sie dabei besonders stolz?
Vielleicht darauf, dass es möglich war, an den großen Traum zu glauben und ihn zu verwirklichen. Aber auch auf konkrete Projekte wie den supermodernen Flagshipstore an der Pariser Avenue Montaigne, den wir in den 1990ern, unbeirrt von der Pariser Boutiquenästhetik, verwirklicht haben.
Ganz nach dem Motto: „Less is more“
Sie haben Luxus immer über Stoffe und die perfekte Schnittführung definiert. Nach der Welle der Logomania feiert nun "Quiet Luxury" ein großes Comeback. Warum?
An der Label-Kultur und dem ostentativen Luxus sieht man sich schnell satt und entsorgt sie. Während der leise Luxus, den Sie ansprechen, im Einklang mit der ökologischen Krise und dem Sinn für Nachhaltigkeit steht.
Woher kam Ihre sehr minimalistische Vision von Mode am Anfang Ihrer Karriere überhaupt?
Ich wurde mit ihr geboren oder habe sie in sehr jungen Jahren gefunden. Jedenfalls war ich schon mit sechs Jahren in Kleiderfragen sehr eigen und habe meine Familie beim Anziehen beraten.
"Less is more", das haben Sie immer propagiert. Gilt Ihre Abneigung gegen Lautes nur in der Mode oder auch im Leben Allgemein?
Schon allgemein. Es war wohl vor allem "weibliche Kleidung", die mich irritiert hat, weil die Männer ganz andere, praktischere Sachen tragen durften. Auf die war ich neidisch.
Welchen Eindruck haben Sie von der nächsten Generation in Bezug auf deren teilweise oberflächliche Lebenseinstellungen und schnelllebigen Kleidungsstil?
Ich schaue auf die übernächste Generation, die das Oberflächliche ablehnt, auch aus ethischen Gründen. Zurzeit beobachte ich bei jungen Leuten viel Fantasie, die auch mit der Einbeziehung von Vintage-Mode zu tun hat.
Kleiden sich die Menschen heute besser als früher?
Sie achten auf Komfort, und das stärkt die Bewegungsfreiheit. Man muss nicht jeden Tag etwas anderes tragen, wenn der Look stimmt.
Gibt es Trends, die Sie bis heute nicht nachvollziehen können?
Da gibt es sogar eine Menge!
Was sollen wir von Ihnen lernen?
Ich bin keine Lehrerin, ich mache Fehler wie alle anderen. Aber ich sehe meine Designarbeit tatsächlich missionarisch. Ich möchte, dass sich die Selbstachtung auf die eigene Kleidung erstreckt und wir durch sie Respekt und Unterstützung gewinnen.
Wir habenuns im Sommer an der Alster beim Spaziergang getroffen. Was bedeutet Ihnen Hamburg?
Hamburg ist meine Heimat, und ich verstehe das dortige Lebensgefühl, eine gewisse Reserviertheit und Kultiviertheit, aber auch das Klima, das Wasser und das klare, unbestechliche Licht.
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