Berlin – Als im Jahr 2000 das selbstbetitelte Debütalbum „Antony and the Johnsons“ erscheint, übertreffen sich die Loblieder. Zu Songs wie „Cripple and the Starfish“, eine Hymne über eine blinde und dysfunktionale Liebe, soll US-Songwriter Lou Reed geschwärmt haben: Beim Hören fühle er die Gegenwart eines Engels.
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Die Gewalt hinter diesem einzigartigen Sound ist Gesamtkunstwerk und Transgender Anohni, die mit ihrer sinnlichen und fließenden Stimme eine allumfassende Traurigkeit in sich trägt. Über die Jahre wird sie zudem nicht müde, mit ihrer Musik politische, soziale und emotionale Verpflichtungen anzumahnen.
Zum ersten Mal seit 2010 wird nun wieder der Bandname Anohni and the Johnsons aufgegriffen. Am Freitag (7. Juli) erscheint mit „My Back Was a Bridge For You To Cross“ deren neues Studioalbum. Der Titel (sinngemäß: „Mein Rücken war eine Brücke für dich“) zeigt: Hier geht es nicht etwa um das Pathos, auf den Schultern irgendwelcher Riesen zu stehen, sondern unter anderem darum, wie frühere Wegbereiter still und leise litten, damit es nachfolgende Generationen besser haben.
Marsha P. Johnson auf dem Cover
Das Album-Cover ziert denn auch ein Foto der Gay-Aktivistin und Dragqueen Marsha P. Johnson aus den 1970er Jahren, der zu Ehren sich die Band Anohni and the Johnsons benannt hat. Die Aktivistin widmete ihr Leben der Befreiung queerer Menschen und Transgender. Wenige Tage, nachdem Anohni sie kennengelernt hatte, wurde sie 1992 unter mysteriösen Umständen tot im New Yorker Hudson River gefunden.
Auf „My Back Was a Bridge For You To Cross“ seien die Themen zwar gleich geblieben, sagt Anohni jüngst dem britischen „Guardian“. Doch ändere sich mit zunehmendem Alter die Herangehensweise auf subtile Weise, so die heute 51-Jährige. „Ich kreise immer wieder um verschiedene Themen und versuche, verschiedene Wege zu finden.“
Auf der neuen Platte tragen Fragen um Akzeptanz und Entfremdung, um Ungleichheit und Benachteiligung, um Liebe und Verlust ein Kleid aus melodiösem Retro-Soul, würdevollem Folk und minimalem Jazz. Das Album ist viel zärtlicher und einfühlsamer als seine Vorgänger. In der Single „It Must Change“ etwa bereiten gelöste Percussions und metallisches Gitarrenzupfen Anohnis Gesang ein gediegenes Lager.
Durchbruch mit „I Am a Bird Now“
Im Jahr 2005 gelingt der Band der Durchbruch. Ihr Zweitling „I Am a Bird Now“, auf dem es offen über queere Begierden geht, reiht sich in den namhaftesten Jahreslisten weit vorn in den Top Ten ein. Gäste darauf sind Musiker wie Lou Reed, Rufus Wainwright und Boy George. Den prestigeträchtigen Mercury Prize für das beste britische Album des Jahres gibt es obendrauf.
Nach „The Crying Light“ (2009) und „Swanlights“ (2010) ist aber vorerst Schluss mit der Band und Anohni wendet sich verstärkt eigenen Projekten als Musikerin und Künstlerin zu. Mit „Hopelessness“ (2015) entsteht eine Solo-Platte, die politische Fragen um Klimawandel und Ungerechtigkeit in knarzende Elektro-Klänge mantelt.
In vielen der neuen Tracks auf „My Back Was a Bridge For You To Cross“ sind im Vergleich zu den ganzen frühen Werken die Arrangements noch weiter zurückgenommen. „Sliver Of Ice“ etwa verfängt allein durch die schlichte Wiederkehr der Zeilen „I love you so much more / I never knew it before“. Ausreißer hingegen ist das explosive Jazz-Stück „Can’t“ über den Tod eines geliebten Menschen.
Im fantastischen „Scapegoat“ pflanzt sich nach einem ruhigen Soul-Einstieg Anohnis gewaltiges Vibrato durch die Ohrmuscheln direkt in den Körper, während die Band kreischend den Bass zittern lässt. „I can punch you / And take all of my hate / Into your body“, singt Anohni und macht damit wie schon auf den frühen Platten Fragen um Identität, Liebe und Gewalt zum Mittelpunkt ihrer Lieder.
Dass die zweite Hälfte der zehn Songs auf dem Album im Vergleich zur ersten noch simpler und weniger experimentell gestaltet ist, tut der Platte keinen Abbruch. Denn Anohnis sanftes Lamento in Tracks wie „It’s My Fault“ oder „Why Am I Alive Now?“ erdet gewaltig.
Sie wolle einen Soundtrack liefern, der Menschen in ihren Träumen und Entscheidungen bestärken könne, sagt Anohni. Anderen das Gefühl zu geben, weniger allein zu sein. Und so endet bei all der Düsternis die Platte dann doch mit einem Hoffnungsschimmer: Die letzten Verse „You / Be free for me“ („Du, sei frei für mich“) hallen nach. © dpa
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