Tödliche Selbstoptimierung: Der Wiener "Tatort" ist ein eiskalter Krimi

Ein brillanter Softwareentwickler wird ermordet. Er war Spezialist für Optimierungsprozesse. Der Wiener „Tatort: Was ist das für eine Welt“ fragt, wo der Beruf aufhören muss und der Mensch beginnen darf – auch bei Kommissarinnen.

Eine KritikvonIris Alanyali

Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Moritz Eisner und Bibi Fellner haben eine neue Assistentin, die junge Meret Schande. Eigentlich schon seit der Folge „Die Amme“ vom März 2021, aber viel erfahren hat das Publikum nicht über sie. Das ändert sich jetzt. „Was ist das für eine Welt“ erzählt von einem Mord, aber auch von Meret Schande (Christina Scherrer).

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Es ist ein eiskalter Krimi mit einem kritischen Blick auf die Welt von IT-Überfliegern, in Blautönen und voller entlarvend steriler Worthülsen. Die Temperatur sänke auf tiefe Minusgrade, brächten Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) nicht etwas Wärme in diese Welt. Und dazwischen sucht Meret Schande ihren Platz.

Der Tote ist Softwareentwickler Marlon Unger (Felix Oitzinger). Einer, der Rennrad fährt und LSD in Mikrodosen konsumiert – für einen Power-Pointer wie Marlon ist die Droge nicht zum Spaß da, sondern zur Leistungsoptimierung. Er war das neue Ass der IT-Firma PVS, die für ihre Kunden Betriebe so „optimiert“, dass mehr Software und dafür weniger Mitarbeiter benötigt werden. Jetzt liegt er erstochen vor seiner Wohnungstür.

Die Suche nach dem Mordmotiv gestaltet sich schwierig

Die Wohnung war karg, aber schick eingerichtet und lag in einem riesigen, anonymen Hochhaus. Das scheint typisch für Marlon: Bei der Befragung von Kollegen, einer Freundin und den Männern seiner Radgruppe erfahren die Ermittlerinnen, dass Marlon sehr beliebt und extrem erfolgreich war, überhaupt ein ganz toller Typ. Aber warum genau, kann niemand sagen. Sie kenne ihren Fleischer besser als die ihren angeblichen Freund Marlon, wundert sich Bibi Fellner.

Entsprechend schwierig gestaltet sich die Suche nach dem Mordmotiv – und die Ungeduld von Moritz Eisner und Bibi Fellner bekommt Meret Schande zu spüren, ausgerechnet sie, die die Polizeiarbeit ins 21. Jahrhundert versetzen und effizienter machen will, indem sie die Ermittlungsergebnisse digitalisiert. Aber die beiden Durchsuchungs-Dinos wollen das Internet natürlich lieber ausgedruckt.

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Die neue Assistentin ist ein Gewinn für den Wiener „Tatort“

Von Meret Schandes Frust darüber wissen wir, weil sie einem Mann von der nicht immer ganz reibungslosen Zusammenarbeit berichtet, sehr offen, er scheint so etwas wie ein Therapeut zu sein. Was die junge Ermittlerin in diese Situation gebracht hat, erfahren wir erst ganz am Ende von „Was ist das für eine Welt“.

Einen großen Teil von dieser Welt sehen wir aus Meret Schandes Perspektive. Die neue Assistentin ist ein Gewinn für den Wiener „Tatort“. Christina Scherrer spielt sie als eine sperrige, nachdenkliche und ehrgeizige Mitarbeiterin, die ihre Unsicherheit mal mit gefügiger Eifrigkeit, mal mit genervtem Trotz überspielt.

Meret Schande fühlt sich von Marlons Ex-Freundin Anna angezogen

Wie ein nachdenklicher Kommentar zieht sich Meret Schandes Erzählung durch die Handlung – die Sicht einer modernen, kritischen, aber auch unerfahreneren Ermittlerin. Sie hinterfragt die Methoden des gut, vielleicht zu gut eingespielten Teams Eisner & Fellner („das totale Polizistenklischee“), könnte von den beiden aber durchaus lernen. Etwa, wie man die Balance hält zwischen professioneller Distanz und aufschlussreicher Anteilnahme: Meret Schande fühlt sich von Marlons Ex-Freundin Anna (Marlene Hauser) angezogen, und besucht sie in dem Club, in dem Anna als Barkeeperin hinter der Theke steht.

Was eine kluge Ermittlungsmethode sein könnte, um einer Zeugin persönlich nahezukommen und ihr Vertrauen zu gewinnen, wirkt schnell unprofessionell. Weil Meret Schande die Grenze zwischen Ermittlerin und Clubbesucherin nur mäßig aufrechterhält, und Anna in ihr eher eine Freundin als eine Ermittlerin zu sehen beginnt.

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Müssen sich Beruf und Mensch widersprechen?

Wo muss der Beruf aufhören, wann darf der Mensch beginnen? Müssen sich die zwei immer widersprechen? Über den „Polizistenmythos von wegen Beruf und Berufung“ sinniert Meret Schande beim Therapeuten. Es sind solche Grenzen, die die Drehbuchautoren Stefan Hafner und Thomas Weingartner ausloten, und die Regisseurin Evi Romen in hochintelligente Bilder (Kamera: Ioan Gavriel) verwandelt.

Zeitsprünge und konzentrierte Szenen unterstreichen das Gebot der Effizienz, während originelle Sequenzen zeigen, wie lächerlich das atemlose Perfektionsbusiness ist. Wenn zum Beispiel das alberne Marketing-Blabla von Ungers schmierigem Kollegen Arnold Cistota (Valentin Postlmayr) nahtlos in einen Werbefilm seiner Firma PVS übergeht. Und dazwischen schütteln die abgeklärten Kommissare komisch ihre Köpfe.

Natürlich konzentriert sich der Verdacht bald auf die Opfer des Betriebskostenbekämpfungsmagiers Marlon. Aber so einfach macht es sich dieser intelligente Krimi nicht. Die Suche nach dem Mörder ist zugleich die Beschäftigung mit der Frage, wie viel Optimierung professionelle Perfektionisten selbst vertragen. Oder Ermittlerinnen und Ermittler. Und was passiert, wenn man vergisst, dass Menschlichkeit auch eine Form von Selbstoptimierung ist.

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