Eine KritikvonIris Alanyali Diese Kritik stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.
In seinen stärksten Momenten wirkt der Kölner „Tatort: Gefangen“ wie die moderne Variation einer Gothic Novel, eine dieser englischen Spukgeschichten aus dem 19. Jahrhundert. Menschen sehen Gespenster. Sie geistern nachts durch unheimliche Räume. Frauen halten mit irrem Blick kleine Babys auf ihrem Arm. Es gibt Nebel, eine Psychiatrie – und zwei Schwestern, die sich verblüffend ähnlich sehen und gegenseitig die Kraft aus der Seele saugen.
Die Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) müssen den Mord an dem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik aufklären. Professor Krüger hat seinem Mörder offenbar eigenhändig die Terrassentür geöffnet und liegt jetzt tot im Wohnzimmer seiner Villa. Kurz vor seinem Tod hat er seinem Freund und Anwalt Florian Weiss (Andreas Döhler) eine SMS geschickt: „Wegen Julia komm vorbei ich kann nicht mehr.“ Julia (Frida-Lovisa Hamann) ist eine von Krögers Patientinnen und die Schwester von Weiss‘ Ehefrau Christine.
Kommissar Ballauf sieht Gespenster Florian und Christine Weiss sind ein nettes Paar, ganz furchtbar hilfsbereit. Als die Kommissare sie besuchen, plappern sie gleich drauflos, geben bereitwillig weiter, was sie wissen. Christine hat sich seit dem Unfalltod der Eltern um Julia gekümmert, denn die bekam eine Psychose. Julia musste irgendwann eingewiesen werden, ihr Kind ziehen jetzt Florian und Christine groß. Ganz liebevoll hält die Schwester den Kleinen im Arm. Und ganz, ganz fest.
Da geht der Spuk schon los. Kein Wunder, dass Freddy Schenk die Sache nicht geheuer scheint. Zumal Kollege Ballauf einer von denen ist, die in diesem „Tatort“ Gespenster sehen. Schenks Sorge um den Partner und ihr angespanntes Verhältnis ist eine Stärke dieser Folge.
Thiel und Boerne dürfen nochmal ran: Das sind die "Tatort"-Fälle bis Weihnachten Ein altes Trauma holt Ballauf nämlich ein, ein Fall (der „Tatort: Kaputt“), bei dem er eine junge Kollegin erschossen hat. Jetzt taucht die tote Melanie plötzlich ständig vor seinen Augen auf, selbst beim therapeutischen Schwimmen schwebt sie im Wasser. Der eigentlichen Therapie bei Psychologin Lydia Rosenberg (Juliane Köhler) verweigert er sich.
In der Klinikpatientin Julia sieht Ballauf eine verwandte Seele. Wenn sie sagt, sie sei gesund, glaubt er ihr. Wenn sie sagt, sie werde gegen ihren Willen in der Klinik festgehalten, hilft er ihr. Alles ist besser, als sich den eigenen Ängsten zu stellen.
Gefangen in Geistergeschichten Der Titel dieser Folge ist natürlich Programm: „Gefangen“ sind hier viele, auf unterschiedliche Weise. „Das wahre Gefängnis ist hier oben“, sagt eine Patientin im Krankenhausflur. Dabei befingert sie verträumt die Blätter einer Zimmerpflanze, ganz, wie sich das für psychisch Kranke in Filmen gehört. Und Julia sagt zu Ballauf: „Wir sitzen beide in einem Gefängnis. Ich in dieser Klinik und Sie in Ihrem Kopf.“
Solche platten Geistesblitze sind zum Glück selten und sie lassen sich leicht ertragen, wenn man sich ganz auf einen „Tatort“ als Gespenstergeschichte einlässt, anstatt Plausibilitäten zu hinterfragen.
Warum etwa die geschlossene Abteilung, in der sich Julia befindet, ungefähr so geschlossen scheint wie Kneipen im Kölner Karneval. Oder warum so absurd lange Zeit niemand wissen will, wer eigentlich der Vater von Julias Kind ist. Auch dass Ballaufs Trauma in den letzten Kölner Fällen seit „Kaputt“ nie erwähnt wurde – schade, aber geschenkt: Der „Tatort“ ist in erster Linie eben eine vertikal erzählte Serie, mit in sich abgeschlossenen Geschichten von unterschiedlichen Drehbuchautoren.
Im klassischen Schauerroman manifestieren sich Seelenqualen in unheimlichen Formen und verschaffen sich mit zunehmender Intensität Aufmerksamkeit. Entsprechend arbeitet Regisseurin Isa Prahl in ihrem ersten „Tatort“ mit Bildern schleichender Bedrohung, mit intensiven Nahaufnahmen und mit Schuldgefühlen, die sich im zunehmendem Verfall ihrer Träger zeigen.
„Tatort: Gefangen“ aus Köln: Realismus als Pluspunkt Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung von Frida-Lovisa Hamann als Julia und Franziska Junge als Christine. Parallel zu Julias Verwandlung von der apathischen Patientin in eine selbstbewusste Persönlichkeit voller Hoffnung verkümmert Franziska Junges glückliche Christine zu einem erschöpften Häufchen Elend.
Klaus J. Behrendts Spiel ist zurückhaltend, aber umso intensiver. Und ohne die beliebten Manierismen, mit denen traumatisierte Menschen im Fernsehen gerne dargestellt werden. Also ohne nervöse Zitterigkeit. Ohne verkrampfte Finger, die sich in einer verängstigten Selbstumarmung in die eigenen Oberarme krallen. Ohne übertrieben aufgerissene Augen.
Ballauf ist ein zutiefst verunsicherter Mann, dem seine Erinnerungen eine Heidenangst machen und der fest entschlossen ist, sie zu ignorieren. Einem coolen Kerl wie ihm kommt man doch nicht mit Psychokram. Dabei ist es gerade seine erhöhte Sensibilität, die ihn der Lösung des Falles näher bringt.
Und schließlich muss man noch die Musik erwähnen – normalerweise schlägt ja der Kitsch-Alarm an, sobald in Filmen Cellos dunkle Melodien malen. Hier aber passt die Musik von Volker Bertelmann. Sie unterstreicht die unheimliche Atmosphäre, anstatt sich mit dramatischer Wucht in den Vordergrund zu drängen. Aufgenommen wurde sie übrigens von 40 Cellos, die in einem alten Budapester Radiosaal spielten – da sollte man sich noch wabernde Nebelschwaden über der Donau dazudenken.
Freddy Schenk sorgt dafür, dass „Gefangen“ nicht allzu sehr in schaudervolle Sphären abdriftet. Aber als er noch einmal Florian Weiss in dessen Kanzlei am Rhein befragen geht, muss auch er durch derart dichten Nebel, dass man fast gar nicht wissen will, was dieser Anwalt da verbirgt. So macht auch ein irrationaler Krimi richtig Spaß.
Diese Kritik wurde erstmals zur Erstausstrahlung des Kölner Falls am 17. Mai 2020 veröffentlicht.
Mehr Infos zum „Tatort“ finden Sie hier
Das waren die größten Tatort-Aufreger der vergangenen Jahre Quelle: Lesen Sie Vollen Artikel