Er hat den Komponisten noch persönlich gekannt. Nun hat Daniel Hope die Werke des 1998 verstorbenen Alfred Schnittke für Violine und Klavier eingespielt. Mit dabei die alptraumhaft verzerrte Version des Weihnachtslieds „Stille Nacht“: In Zeiten von Corona-bedingter Isolation wirkt dieser Schrei ins Leere von 1978 erschreckend aktuell.
AZ: Herr Hope, hätten Sie bei der CD-Aufnahme im Herbst 2019 eine derartige Aktualität vor möglich gehalten?
DANIEL HOPE: In dieser Direktheit nicht. Grundsätzlich birgt die Musik Schnittkes aber eine Schonungslosigkeit, die den Ton unserer Welt im Moment ziemlich genau trifft. Schnittkes „Stille Nacht“ ist alles: meisterhaft, makaber, erbarmungslos. Wir alle kennen diese Melodie seit unserer Kindheit. Hier fühlen wir uns geborgen. Hier aber ist nichts in Ordnung oder vertraut. Wir kennen uns selbst nicht mehr. Unsere Komfortzone ist zerstört. Es gibt eine Version von Simon and Garfunkel von 1966, bei der die Melodie mit Meldungen vom Vietnam-Krieg gestört wird. Das ist auch makaber, aber bei Schnittke ist das noch verstörender – und zeitloser. Manche lehnen das Kompromiss- und Rastlose Schnittkes wie auch die Gegensätze ab. Mich reizt gerade das.
von imago images/ITAR-TASS
Müssen die jüdischen Wurzeln von Schnittke mitgedacht werden?
Die DNA eines Menschen spielt natürlich eine wichtige Rolle. Das Jüdische ist bei ihm jedoch komplizierter. Er ist zum Katholizismus konvertiert und hatte eine gewisse Distanz zum jüdischen Glauben. Mich interessiert mehr seine musikalische Aussage. Da ist die Fähigkeit, innerhalb von Sekunden zwischen Stilen zu springen: Schnittke hat diese Polystilistik wie kaum ein anderer auf virtuoseste Art bedient. Das macht ihn so einmalig.
Hope: „Meine Ohren waren damals komplett frisch, unverdorben, frei“
Die Violinsonate Nr. 1 war 1989 Ihre erste Schnittke-Erfahrung. Steht Sie Ihnen von allen Werken auf der CD am nächsten?
Das ist schwierig zu sagen, weil in jedem Stück eine tiefe persönliche Verbindung steckt. Natürlich war diese Sonate mein Türöffner generell zur zeitgenössischen Musik. Ich habe seither mit so vielen Komponisten gearbeitet, aber der erste Eindruck von dieser Sonate war einschneidend. Meine Ohren waren damals komplett frisch, unverdorben, frei. Und dann kam diese Musik, vor allem die Akkorde zu Beginn des dritten Satzes.
Hier zitiert Schnittke das Largo aus dem Klaviertrio Nr. 2 von Dmitri Schostakowitsch.
Genau. Diese Musik hat mich sprachlos gemacht, aber das gilt auch für den „Tango“. Ich kannte ihn aus dem „Concerto grosso“ Nr. 1. In der Musik zum Film „Agonia“ von Elem Klimow wird er zum „Tango in a Madhouse“, einer Irrenanstalt. Nach der Sonate war dieser Tango das nächste Stück Schnittkes, mit dem ich mich jahrelang beschäftigte. Seitdem verfolgt mich diese Melodie. Manchmal liege ich nachts wach und höre sie in mir. Ich habe diesen Tango in verschiedenen Bearbeitungen gespielt, aber in der Bearbeitung für Violine und Klavier kommen ungleich mehr persönliche Gefühle auf mich zurück.
Hope: „Gerade die Intervalle dürfen nicht zu viel Vibrato haben“
Und die „Suite im alten Stil“?
Für Schnittke bedeutete die Musikgeschichte nicht etwas Ödes aus der Vergangenheit, sondern sie war etwas Lebendiges. Darum finde ich diese Suite ein Muss, weil sie zeigt, wie sich Schnittke gegen die Zeit und ihren Lauf gestellt hat. Sie ist eine brillante Auseinandersetzung mit der „Pasticche“ als Form und konkret mit der Barock-Musik durch die Brille eines Wolgadeutschen.
Hilft ein differenziertes Vibrato, um die Vielfalt und Mikrotonalität zu verlebendigen? Wie spielt man eigentlich Schnittke?
Gute Frage! Der vibratolose Klang ist extrem wichtig. Ich finde, dass gerade die Intervalle nicht zu viel Vibrato haben dürfen. Der Unterschied zwischen dem Reinen, Wohltemperierten einerseits und dem Mikrotonalen andererseits muss unbedingt zur Geltung kommen. Bei Schnittke ist eine Phrase oftmals Ausdruck eines antiromantischen Sentiments. Nehmen Sie die ersten vier Takte der Violinsonate Nr. 1: Das bildet in sich eine Zwölfton-Reihe. Einige Musiker spielen das sehr romantisch und wuchtig. Das tue ich nicht, und wie mir Schnittke sagte, hat er sich das auch so gewünscht.
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Hope über Schnittke: „Alles ist extrem genau notiert“
Warum?
Er wollte hier keine kantable, romantische Schnulze, sondern ein klinisches Monogramm. Das entscheidet über die gesamte Sonate. Deshalb darf es nicht überromantisiert klingen. Mit solchen Feinheiten und Ideen gestalte ich meinen Schnittke-Klang, seitdem ich 18 bin. Natürlich kommen immer neue, andere Impulse hinzu, zumal wenn man mit einem fantastischen Pianisten wie Alexey Botvinov spielt, der diese Musik so gut kennt und tief fühlt. Da darf man niemals zu viel machen: weder zu wenig Vibrato noch zu viel Romantik. Es zählt die Exaktheit, und die steht in Alfred Schnittkes Partituren. Alles ist extrem genau notiert.
Was heißt das für die Interpretation?
Wenn man dem wie einer „Roadmap“ folgt, kommt alles andere ganz natürlich. Gidon Kremer hat das vor 40, 50 Jahren fabelhaft gemacht. Er hat das gewissermaßen vorgegeben, aber: Kremer ist Kremer. Er ist anders als Mark Lubotsky, für den Schnittke viel geschrieben hat, und dieser ist wiederum anders als Oleh Krysa. Die Unterschiede könnten nicht größer sein, und doch hat Schnittke alle drei geliebt. Das allein zeigt, was alles möglich ist.
Daniel Hope: „Schnittke – Works for Violin and Piano” (Deutsche Grammophon)
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