München – Stadträtin Antonia Silberstein hat eine Kunstvision: Sie will als letztes Projekt vor der Rente aus der Paul-Heyse-Villa ein Kulturzentrum machen. Gemeinsam mit der Autorin Ortrud Vandervelt und der Monacensia-Mitarbeiterin Theresa Flößer macht sie einen Stadtspaziergang zur Villa, wo sie auf einen Heyse-Experten und dessen Lebensgefährten trifft. In seinem Roman „Am Götterbaum“ mischt Hans Pleschinski ein satirisch-funkelndes Münchenporträt der Gegenwart mit der Biografie des großen, vergessenen Autors Paul Heyse, der 1910 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
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Coronavirus: „Man will einfach nichts mehr davon wissen“
AZ: Herr Pleschinski, Sie sind normalerweise beständig auf Lesereise. Jetzt können sie nicht einmal Ihren neuen Roman öffentlich in München vorstellen.
HANS PLESCHINKSI: Das ist betrüblich, aber wir werden am 20. April in der Monacensia eine Premierenlesung machen, wenn es wieder möglich ist. Für mich ist die Situation bedauerlich, ich weiß schon gar nicht mehr wie reisen geht. Mir selbst war das immer wichtig, denn der direkte Kontakt zum Publikum tut sehr gut.
Der erzwungene Stillstand könnte auch eine kreative Phase sein?
Es herrscht eine bleierne Stimmung, durchdrungen von der Furchtbarkeit rundum. Ich hatte im Herbst noch viel mit Feinarbeit am neuen Roman zu tun und war beschäftigt. Ich glaube aber nicht an die Theorie, dass sich nun die Schubladen mit ganz tollen Arbeiten füllen. Man dachte auch nach dem Untergang der DDR oder dem Tod Francos, dass nun die grandiosen Romane aus den Verstecken hervorgezogen werden. Aber da war nichts. Das wird auch jetzt so sein. Und ich bezweifle, dass es in naher Zukunft einen Run auf Corona-Tagebücher geben wird. Man will einfach nichts mehr davon wissen. An diesem Keim ist nichts Gutes.
Pleschinkis will Paul Heyse in die Gegenwart holen
Sie haben sich in Ihren Romanen zuletzt mit Thomas Mann auseinandergesetzt, danach mit Gerhart Hauptmann. Führt das zwangsläufig zu Paul Heyse?
Es war nie der Plan, drei Romane über drei Nobelpreisträger zu schreiben. Heyse ging allerdings in mir um, weil ich 2014, zum 100. Todestag in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste einen Abend zu Paul Heyse veranstaltet habe. Das führte zu einer längeren Beschäftigung mit ihm. Aber erst, als ich auf die Geschichte seiner alten Villa gestoßen bin, war mir klar, dass ich Heyse in die Gegenwart holen muss.
In Ihrem Roman geht es auch darum, das Haus zu einer kulturellen Begegnungsstätte auszubauen. Bisher verbindet man mit dem Namen Heyse eher die schreckliche Unterführung am Hauptbahnhof.
Es gibt noch ein Ehrengrab auf dem Waldfriedhof, da pilgert allerdings auch niemand hin. Aber von Germanisten habe ich als Echo auf meinen Roman schon gehört: „Wunderbar, jetzt gibt es wieder neue Promotionsthemen, wir hatten ihn alle schon vergessen.“
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„Heyse tat mit seinen Romanen der menschlichen Seele etwas Gutes“
Sie legen im Roman Heyse selbst die Worte in den Mund : „Ich bin ein Mann des 19. Jahrhunderts“ – warum ist Heyse so wenig präsent?
Das wird alles im Roman untersucht – die fünf Protagonisten sind quasi alle ich, die sich über Heyse, sein Leben und seinen Stellenwert unterhalten. Es gibt Phänomenales von ihm. Als das deutsche Großbürgertum sich nach Unterhaltung sehnte, passte Heyse wunderbar, zumal es in Deutschland kaum geniale Schriftsteller gab wie Dickens in England oder Flaubert in Frankreich. Heyse tat mit seinen Novellen, Romanen und Gedichten der menschlichen Seele etwas Gutes. Man muss feststellen: Zwischen Heinrich Heine und Thomas Mann klafft in unserer Wahrnehmung ein riesiges Loch, fast vierzig Jahre, in der es anscheinend keine große Literatur gegeben hat – Fontane ausgenommen.
Fontane schrieb, dass man nach Heyse ein Zeitalter benennen werde. So weit ist es dann doch nicht gekommen.
Heyse zog 1850, im Alter von 20 Jahren, von Berlin nach München und bekam 1.000 Gulden jährlich von König Maximilian II. Das war fast ein Ministergehalt. Er war ein Shooting-Star und hier sofort angetan von der „demokratisierenden Kraft des Bieres“ und „leichtherzigen Lebenskunst“. Er entdeckte den Biergarten als einen philosophischen Ort und beschrieb das Sinnieren unter Kastanien. Er machte Werbung für die Münchner Lebensart, die bis heute wirkt. Heyse führte einen Salon, er hat den literarischen Geist der Stadt erweckt, das ist ein ungeheures Verdienst. Das „Heysische Zeitalter“ empfanden viele Zeitgenossen tatsächlich so. Heyse galt als Nachfolger Goethes und er fühlte sich auch so. Das heißt: Dass man den Menschen zu Idealen erzieht.
„Heyse war wortbegabt, das lag ihm im Blute“
War er auch naturwissenschaftlich universal gebildet?
So universal gebildet wie Goethe war fast kein anderer Mensch auf der Welt. Heyse hat sich nicht in die Naturwissenschaften vertieft, wobei man auch sagen muss: Die waren dann schon ein halbes Jahrhundert weiter fortgeschritten und so spezialisiert, dass sich kein schöngeistiger Mensch mehr umfassend in Naturwissenschaften auskannte. Aber Heyses Bezug zu Italien, zum Hellen, zur Musik – das ist goethisch, ebenso die Vielfalt der Gattungen, in denen er glänzte.
Es gibt zwei konträre Beurteilungen Heyses in Ihrem Roman: Der Künstler als sprudelnder „Geysir der Worte“, Thomas Mann sprach dagegen kritisch von „unanständiger Fruchtbarkeit“. Was stimmt denn nun?
Beides. Es ist außerordentlich, wie viel er schrieb und wie wenig er korrigieren musste. Sein Vater war einer der führenden Sprachforscher Deutschlands und Heyse war immens wortbegabt, das lag ihm im Blute.
Er war ein stattlicher, schöner Mann, war das auch Teil seines Erfolgs?
Schönheit öffnet Tore. Er war ein dunkellockiger Poet, das erleichterte schon den Zugang in manche Kreise. Außerdem war er ein außergewöhnlich liberaler Geist, ein offener, völkerverbindender Künstler, der andere auch mit seinem Geld unterstützt hat. Er schrieb wahrscheinlich das erste Gedicht weltweit gegen Tierquälerei. Danach wurden Tierschutzvereine in Deutschland gegründet. Er hat sich für Mädchen- und Frauenbildung eingesetzt. Und er war so mutig, Kaiser Wilhelm einen Juryposten vor die die Füße zu schmeißen, weil der sich weigerte, einen jüdischen Künstler mit einem Preis auszuzeichnen.
Pleschinkis Empfehlung: Heyses Gedicht über München
Sie zitieren den Polarforscher Fridtjof Nansen, der sich per Brief bei Paul Heyse bedankt.
Nansen hatte Heyses Novellen mit auf eine Nordpolarexpedition genommen und schrieb Heyse, dass die Texte ihm und seinen Männern in der finsteren Kälte Wärme und Licht gespendet hätten. Das ist doch überwältigend!
Welche Texte von Heyse können Sie empfehlen?
Die Gedichte zum Tod seines Sohnes Ernst sind sehr berührend. Heyse hat eines der schönsten Gedichte über München geschrieben. Seine Autobiografie „Jugenderinnerungen und Bekenntnisse“ ist das Gründungsdokument für Literatur in München. Man erlebt beim Lesen, wie München aufbricht in die Moderne. Und einige seiner rund 180 Novellen bleiben Meisterwerke.
1874 zog Heyse in seine Villa gegenüber der Lenbach-Villa. Wie konnte er sich das leisten?
Das Grundstück war ihm vom König übereignet worden. Und Heyse hat Literaturagenten beschäftigt, die Verträge aushandelten. Das war neu und hochmodern. Er war in 24 Sprachen übersetzt und konnte durch sein Schreiben ein angesehenes Leben verwirklichen.
Heyse entdeckte den Gardasee für die Münchner
Wie jeder reiche Münchner hat er seine Beziehung zum Gardasse entdeckt und auch dort eine Villa bauen lassen.
Nein, er hat den Gardasee für Münchner entdeckt. Er suchte ein Domizil im Süden für den Winter, auch, weil er Lungenprobleme hatte. Danach kamen viele andere, denn er war ein Magnet. Er übersetzte viel aus dem Italienischen. Bis heute ist Heyse in Italien bekannter als bei uns. Die Italiener haben einen wunderbaren Band zum 100. Geburtstag herausgebracht, das gibt es bei uns nicht. Wenn Heyse runden Geburtstag feierte, hat das Telegrafenamt von Sirmione den ganzen Tag nur für ihn gearbeitet, es kamen Tausende von Glückwünschen aus aller Welt. Das sagt alles über seine Bedeutung.
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Kritiker warfen ihm vor, er schreibe oberflächlich.
Er wurde angefeindet, gewiss wegen seines Erfolgs, manchmal auch wegen der Qualität. Andere meinten, tiefsinniger zu sein. Aber das wollte Heyse auch gar nicht. Er wollte nicht vergrübelt sein, er schrieb mit Licht und Hoffnung im Gemüt.
Dennoch bekam er sogar Morddrohungen!
Sein Großvater war Jude gewesen, Heyse selbst interessierte sich nicht für Religion. Aber er musste dann um 1880 die plötzliche Flut von Antisemitismus ertragen. Er bekam Morddrohungen, weil er sich für ein Heinrich Heine Denkmal in Düsseldorf starkgemacht hatte. Das Denkmal, ein Loreley-Brunnen, war fertig, es gab einen Sturm rechter Stimmen, die Heine als Vaterlandsverräter bezeichneten, nun traute sich Düsseldorf nicht mehr, das Denkmal aufzustellen. Heyse gelang es, den Brunnen zu deutschen Emigranten nach New York zu vermitteln. Dort steht er noch immer in der Bronx, er wird gerade renoviert.
Viele Figuren in Pleschinkis Roman sind angelehnt an reale Personen
Sie rollen in Ihrem Roman Heyses Leben auf, das Buch aber spielt in der Gegenwart, warum?
Nach „Wiesenstein“, dem tragischen Buch über Gerhart Hauptmann und das Ende des Zweiten Weltkriegs, wollte ich etwas Heiteres schreiben, dafür bot sich Heyse an. Ich wollte aus der Düsternis mal wieder raus. Ich hoffe, mein Roman ist auch ein Anti-Depressivum. Es ist möglicherweise ein kühner Streich, den Roman in einem Gegenwartsabend in München anzusiedeln, in einem turbulenten Stadtspaziergang.
Haben die Figuren, vor allem die drei Damen in Ihrem Roman, reale Vorbilder?
Das wäre spannend, darüber Auskunft zu geben. Es hat aber keinen Sinn, sich ein reales Vorbild zu nehmen, das wäre eine enge Schablone. Es gibt lediglich Anklänge.
Ihr Roman ist ein Plädoyer für ein Heyse-Kultur-Zentrum. Das würden die derzeitigen Mieter der Villa wahrscheinlich nicht unterstützen.
Sicherlich nicht, aber die derzeitigen Bewohner sind phänomenale Kenner des Werks, ich konnte es gar nicht fassen: Es gibt wirklich noch Heyse-fanatische Menschen.
Wahrscheinlich die einzigen in München.
Das wird sich hoffentlich mit dem Erscheinen meines Romans ändern. Der Gedanke des Heyse-Zentrums am Kunstareal wird auch nicht so schnell wieder verschwinden. Ich denke an einen Veranstaltungs- und Theaterraum, Wohnungen für Stipendiaten und – was mir sehr wichtig wäre – eine Lola-Montez-Bar, die 24 Stunden geöffnet hat. Da ließe sich doch was machen!
Hans Pleschinski: „Am Götterbaum“ (C. H. Beck Verlag, 280 Seiten, 23 Euro).
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