Kein Spiel wurde in den letzten Jahren so sehnlich erwartet wie „Cyberpunk 2077“. Der dystopische Science-Fiction-Thriller sollte in der Erwartung vieler Fans nicht nur das „Cyberpunk“-Genre zum packenden Erlebnis machen, sondern auch als Rollenspiel neue Maßstäbe setzen. Doch dem Titel gelingt nur eines davon.
Mit „Cyberpunk 2077“ ist am 10. Dezember der größte Hype-Train der jüngeren Gaming-Geschichte endlich in den Bahnhof eingefahren. Zwar – ganz nach Vorbild der Deutschen Bahn – mit ordentlicher Verspätung, aber an das Warten hatte man sich in den rund acht Jahren seit der ersten Ankündigung des Spiels 2012 schließlich gewöhnen können.
Jahrelang ließ Entwickler CD Projekt Red seine Fans völlig im Dunkeln darüber, was für ein Spiel „Cyberpunk“ tatsächlich werden würde und ob es überhaupt jemals erscheint. Doch spätestens, als 2018 erstmals Gameplay aus dem Spiel gezeigt wurde, sorgte das für mehr Furore, als ein rotes Tuch bei einem Stierkampf. Für viele stand ab da fest: Hier entsteht ein neuer Rollenspiel-Meilenstein.
Um zu überprüfen, was an diesen Vorschusslorbeeren dran ist, haben wir uns in die Welt von „Cyberpunk 2077“ gestürzt. Und gemessen an der astronomischen Erwartungshaltung an das Spiel wurden wir – so viel sei vorweggenommen – enttäuscht.
Bevor jetzt die ersten Mistgabeln in unsere Richtung fliegen, sei gesagt, dass „Cyberpunk“ ein sehr gutes Spiel geworden ist. Nur eben nicht im Ganzen, sondern in einigen gewissen Bereichen.
Welche das sind und warum andere Studios nicht unbedingt eine Stabhochsprungstange brauchen, um über die Qualitäts-Messlatte von CD Projekt Red zu kommen, erklären wir in den nachfolgenden Zeilen.
„Cyberpunk 2077“: Jede Hintergrundgeschichte führt zu Jackie
In „Cyberpunk 2077“ schlüpfen wir in die Rolle des Söldners V, der in Night City auf der Suche nach Ruhm und Erfolg ist. Bevor wir ins eigentliche Spiel starten, wählen wir das Geschlecht unseres Charakters und bauen unseren Protagonisten mittels eines Charaktereditors zusammen.
Die Optionen, die dieser bietet, sind umfangreich. Beispielsweise können wir aus verschiedenen Arten von Zähnen wählen und die Länge unserer Fingernägel einstellen.
Völlig frei kann man seinen V aber nicht zusammenstellen. Denn in „Cyberpunk 2077“ wählt man bei jedem Merkmal aus einer festen Zahl von vorgefertigten, nicht nachjustierbaren Darstellungsformen aus.
Auch eine Hintergrundgeschichte für V wählt man vor dem Spielstart. Zur Auswahl stehen drei Lebenspfade, welche die Herkunft des Charakters festlegen:
- Als Streetkid ist man in den dreckigen Straßen von Night City aufgewachsen und weiß, dass die Stadt einen verschlingt, wenn man nicht aufpasst.
- Der Nomade stammt von jenseits der Stadtmauern, wo er ein Leben in der Obhut seines Clans geführt hat.
- Als Konzerner hat V für den Megakonzern Arasaka gearbeitet und kennt die Machtspiele im Haifischbecken der Geschäftswelt von „Cyberpunk 2077“.
Der Lebenspfad legt im Kern die Perspektive fest, mit der V die Ereignisse im Spiel erlebt. Außerdem läuft der Auftakt des Spiels je nach Herkunft eures Charakters anders ab.
Als Streetkid startet ihr beispielsweise in einer Bar in Night City, wo ihr schnell den Auftrag erhaltet, ein besonderes Auto zu stehlen. Für den Nomaden V beginnt die Handlung hingegen in den sogenannten Badlands, außerhalb der Stadt, von wo aus er einen Koffer in die „Cyberpunk“-Metropole schmuggeln soll.
Die Einstiege sind interessant, weil sie alle einen anderen Blick auf die Welt von „Cyberpunk“ bieten, nur fallen sie ziemlich kurz aus. Länger als rund 30 Minuten dauert keine der Prolog-Varianten. Jeder der Pfade führt letztendlich auch zu Vs neuem besten Freund Jackie und damit in den ersten von insgesamt drei Akten der Hauptgeschichte des Spiels.
Eine tolle Handlung mit einem eklatanten Makel
Worum sich diese dreht, sollte man am besten selbst herausfinden. Denn die Geschichte ist definitiv das Highlight von „Cyberpunk“. Um nicht zu spoilern, umreißen wir hier nur die Ereignisse innerhalb des ersten Aktes und auch nur so weit, wie es für diese Kritik unbedingt notwendig ist. Wer gar nichts über die Story erfahren möchte, sollte den nächsten Absatz überspringen.
Im Anschluss an den Prolog macht die Handlung einen Zeitsprung von sechs Monaten. Nach zahlreichen kleineren Aufträgen bietet sich Jackie und V die Gelegenheit auf einen äußerst lukrativen Job, der sie direkt in die Söldner-Oberliga befördern würde. Dafür sollen sie einen Bio-Chip stehlen, der eigentlich dem Megakonzern Arasaka gehört. Doch der Job geht schief, was für alle beteiligten drastische Konsequenzen nach sich zieht. Protagonist V stellt zum Beispiel fest, dass in seinem Kopf plötzlich die Psyche des bereits vor 50 Jahren verstorbenen Rockstars und Terroristen Johnny Silverhand steckt. Der ist nicht nur ein richtig nerviges Arschloch, sondern stellt auch eine Gefahr für Vs Leben dar. Also setzt dieser alles daran, seinen Verstand von Johnny zu befreien.
Auch wenn die Hauptstory Zeit braucht, um in die Gänge zu kommen: Sobald der von Keanu Reeves verkörperte Johnny Silverhand sich im Schädel unseres Protagonisten eingenistet hat, entwickelt sie eine unfassbare Sogwirkung.
„Cyberpunk“ lässt den Spieler lange im Dunkeln tappen und erst nach und nach alle Hintergründe für die missliche Lage seines Hauptcharakters ergründen. Weil die Suche nach einer Rettung für V dann auch noch wendungsreich und spannend inszeniert ist, kann man sich oft kaum von den Geschehnissen losreißen.
Obwohl die Geschichte und wie sie erzählt wird ganz klar die größte Stärke des Spiels ist: revolutionär ist sie nicht. Wer sich auch nur ansatzweise mit dem „Cyberpunk“-Genre und zum Beispiel den Werken eines William Gibson auseinandergesetzt hat, wird wenig bis nichts finden, was es bis dato noch nicht in den datengetriebenen Dystopien dieser SciFi-Subgattung gegeben hat.
Außerdem leistet sich CD Projekt Red bei der Hauptgeschichte auch einen ziemlich groben Patzer. Immer wieder lässt das Spiel durchblicken, dass Johnny Silverhand nicht nur ein narzisstisches Schwein ist und mehr hinter seinem Charakter steckt als die platten „Fuck the System“-Parolen, die er am laufenden Band zum Besten gibt.
Doch die Motivation für das Verhalten des Rockers, die nach zig Stunden im Spiel geliefert wird, wirkt konstruiert und klischeehaft. Im Kontext des gesamten Spiels ist das unverständlich, weil die Entwickler es ansonsten fast immer schaffen, ihren Charakteren Tiefgang zu verleihen.
Tatsächlich ist die Charakterzeichung eine der größten Stärken von „Cyberpunk 2077“. Vielen Figuren wird genug Zeit gegeben, um ihre Beweggründe glaubhaft zu vermitteln.
Als Spieler kann man deshalb tatsächlich nachvollziehen, was diese Leute antreibt und man baut öfter auch eine emotionale Bindung zu ihnen auf. Wir hatten beispielsweise im gesamten finalen Akt tatsächlich Angst um unsere Begleiter, die wir durch unser Verhalten möglicherweise zum Tode verdammt hatten.
Dass man wissen will, was hinter den Fassaden der Gesichter in Night City steckt, liegt auch an der großartigen Synchronisation von „Cyberpunk 2077“. Dabei steht die deutsche Sprachausgabe dem englischen Original in nichts nach und ist mit vielen prominenten Stimmen besetzt.
Aber auch die weniger bekannten Sprecher passen zu ihren Charakteren und machen diese deutlich glaubwürdiger.
Eine Welt aus Geschichten – und kaum etwas anderem
CD Projekt Red konzentriert sich auch abseits der Hauptmissionen darauf, Geschichten zu erzählen. Anders als bei vielen Open-World-Spielen wie „Grand Theft Auto“ oder „Assasin’s Creed“ wird man hier deshalb nicht mit Nebenbeschäftigungen zugeballert. Außerhalb der Quests und Aufträge lässt sich kaum ein Gebäude betreten oder mit NPCs interagieren.
Das geht sogar so weit, dass es nicht einmal Friseursalons oder andere Stationen zur kosmetischen Anpassung von V gibt. Das Aussehen, für das man sich im Charaktereditor entscheidet, ist deshalb aktuell vom Kopf bis zu den längenoptimierten Fingernägeln in Stein, pardon, in Polygonen gemeißelt.
Ist die offene Welt von „Cyberpunk 2077“ also leer und langweilig? Mitnichten. Sie ist eben nur mehr eine Kulisse als ein Abenteuerspielplatz. Denn fast alle Entdeckungen, die man neben der Hauptstory machen kann, entpuppen sich als weitere Geschichten.
Die stehen in Umfang und Qualität teilweise selbst den Hauptmissionen in kaum etwas nach. Einige Nebenmissionen entwickeln sich sogar von banalen Aufträgen zu Quest-Ketten, bei denen man unbedingt erfahren möchte, wie es weitergeht.
Diese Atmosphäre, die seit Jahrzehnten durch das „Cyberpunk“-Genre kultiviert wird, fängt die offene Welt des Spiels hervorragend ein. Man möchte am liebsten in der Stadt untertauchen und jeden Winkel und jede einzelne Geschichte ergründen.
Und das auch, weil die Entwickler generell nicht vor schwierigen Themen zurückschrecken. Denn Night City ist Moloch. Hier bestimmen Megakonzerne die Geschicke von Millionen und das Leben eines Menschen ist oft nicht mehr wert, als die kybernetischen Implantate in seinem Körper auf dem Schwarzmarkt bringen.
In dieser Stadt gibt es so gut wie keine Grenze, die nicht schon überschritten wurde. Aber egal, ob sich Protagonist V nun mit Organraub oder Depressionen auseinandersetzen muss – das Spiel tut das nie auf reißerische Art und Weise.
CD Projekt Red schafft es, immer reflektiert mit den moralischen Dilemmata in den Geschichten umzugehen. Gleichzeitig liefert das Studio keine einfachen Lösungen für die teilweise grauenhaften Geschehnisse in Night City. Vielmehr bemühen sich die Entwickler, oft klassische Schwarz-Weiß-Zeichnungen aufzubrechen und zum Nachdenken anzuregen.
Nicht alle Geschichten, die sich finden lassen, sind dabei auf demselben Niveau. Aber wo man sich bei anderen Open-World-Spielen nach einer achtstündigen Zock-Session kaum mehr daran erinnern kann, womit man jetzt eigentlich seine Zeit totgeschlagen hat, bleibt einem bei „Cyberpunk“ sogar ein kurzes Gespräch mit einem sprechenden Getränkeautomat im Kopf hängen.
Einfach, weil die Entwickler es verstehen, interessante Geschichten zu erzählen.
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Gameplay-Hybrid der in keinem Bereich brilliert
Innerhalb der einzelnen Missionen schleicht, schießt und hackt man sich durch Night City. Wie beim Setting, lässt sich Cyberpunk auch beim Gameplay mit der „Deus Ex“-Reihe vergleichen.
Allerdings mit einem großen Unterschied: Während im offensichtlichen Vorbild das lautlose Vorgehen fast immer die bessere Alternative ist, lässt sich der Spielstil von V deutlich flexibler wählen.
Wer von hinterhältigem Gemeuchel nichts hält, hat in den meisten Fällen die Wahl, mit der Schrotflinte oder dem Schwert im Anschlag die Vordertür einzutreten. Es gibt auch kein Moral-System, das den Spieler für aggressives und tödliches Vorgehen bestraft. Allerdings reagieren manchmal Charaktere, je nachdem wie man sich verhalten hat, anders. Das hat aber selten große Auswirkungen.
Obwohl beide Arten des Vorgehens prinzipiell gleichwertig sind, fühlt sich das Schleichen des Öfteren unterlegen an. Die Boss-Kämpfe lassen dem Spieler beispielsweise keine andere Wahl als den offenen Kampf. In manchen Arealen ist es auch schwieriger, heimlich vorzugehen, weil die Gegner sehr dicht beieinander stehen und man sie kaum ungesehen ausschalten kann.
Auf den höheren Schwierigkeitsgraden dreht sich dieses Gefühl dann um. Hier kommt man als Stealth-Spieler wesentlich besser voran, weil uns Feinde teilweise mit nur wenigen Kugeln in die ewigen Cyberjagdgründe schicken.
Das Gameplay von „Cyberpunk“ reicht aber weder an reinrassige Shooter noch Schleich-Spiele heran. Dafür fehlt es einfach am Feinschliff. Das Waffengefühl und Trefferfeedback ist beispielsweise nicht saftig genug.
Beim Schleichen vermisst man die Möglichkeit, mehrere Gegner gleichzeitig oder von der Seite k.o. zu schlagen. Die einzelnen Mechaniken funktionieren zwar grundsätzlich und machen auch Spaß. Trotzdem bleiben sie fast alle in gewissen Bereichen oberflächlich.
„Cyberpunk 2077“: Klassenlos durch Night City
Ein bärenstarker Hacker, der seine Gegner mit technisch modifizierten Armen im Stile von Muhammad Ali auf die Bretter schickt? Oder ein Katana schwingender Cyber-Ninja, der lieber leise und ungesehen vor sich hin meuchelt? Bei der Art, welche Talente Protagonist V in sich vereinen soll, werden dem Spieler in „Cyberpunk“ keine Grenzen gesetzt.
Mittels des Skill-Systems lassen sich völlig frei eigene Klassen basteln. Dazu steckt man nach jedem Level-Aufstieg Punkte in eines von fünf Attributen, die dann wiederum Zugang zu insgesamt zwölf verschiedenen Fähigkeitsbäumen gewähren.
Wer beispielsweise die direkte Konfrontation meiden möchte, investiert Punkte in die Intelligenz seines V, um Quickhack-Skills freizuschalten. Damit lässt sich dann einer Horde von Gegnern aus der Distanz einen Virus in den Kopf laden, der ihnen die technisch aufgerüsteten Synapsen durchbrennen lässt.
Toll ist, dass jedes Attribut mehrere Fähigkeitsbäume in sich vereint und man als Spieler innerhalb dieser seine Punkte frei investieren kann. Ist etwa mein „Coolness“-Level hoch genug, kann ich jeden Skill, der unter dieses Attribut fällt, lernen und muss dafür nicht zwingend erst einen anderen freischalten.
Ähnlich wie in „Skyrim“ erhält V außerdem Boni, je öfter er bestimmte Fähigkeiten einsetzt. Wer vorzugsweise mit Pistolen um sich schießt, steigt nach einiger Zeit automatisch im „Handfeuerwaffen“-Baum des Reflex-Attributs auf.
Dadurch erhält man zusätzliche passive Statuswerte im Umgang mit Revolvern und Co., aber auch allgemeine Fähigkeitspunkte. Die lassen sich dann in beliebige Skills investieren.
Einziger Wermutstropfen am Charaktersystem: Die allermeisten Talente sind passiver Natur. Wer sich hier Fähigkeiten wie eine Röntgensicht erhofft hatte, der wird enttäuscht werden. Einige aktive Skills lassen sich bei den sogenannten Ripperdocs erwerben.
Die sind darauf spezialisiert, Menschen Cyberimplantate in den Körper einzusetzen. So kann sich V vom Onkel Doktor einen Raketenwerfer oder die versteckten Mantis-Klingen in den Arm schrauben lassen.
Die Auswahl an diesen, das Gameplay nachhaltig verändernden Modifikationen fällt aber gering aus – und nicht alle davon lassen sich sofort erwerben.
Erstens sind viele der Implantate recht teuer. Zweitens benötigt man für einige bestimmte Attributwerte und drittens lassen sich mächtige Upgrades erst kaufen, wenn man einen gewissen Ruf aufgebaut hat.
Das passiert unter anderem, indem man Aufträge abschließt, Gegner ausschaltet oder von der Polizei ausgeschriebene Verbrecher zur Strecke bringt. Dadurch steigt V im sogenannten Street-Creed-Level auf, was ihm dann nicht nur Zugang zu den Ripperdoc-Upgrades, sondern auch zu neuen Quests verleiht.
Beim Loot hat CD Projekt Red geschlampt
Neben den verschiedenen Skill-Systemen verbessern wir unseren Charakter, wie es sich für ein Rollenspiel gehört: mit neuer Ausrüstung. Leider lässt sich das Loot-System in „Cyberpunk“ im besten Fall als nervig oder lieblos dahin geklatscht bezeichnen. Dabei klingen die Optionen bei den Waffen zunächst tatsächlich interessant.
Abseits der verschiedenen Waffenklassen wie Pistolen oder Sturmgewehren gibt es noch drei unterschiedliche Typen von Kanonen:
- Smart-Guns richten sich an Spieler, die entweder keine Lust haben zu zielen, oder in ihrem Leben noch keinen Ego-Shooter angefasst haben. Diese Waffen feuern zielsuchende Projektile, welche die Gegner um Ecken herum oder hinter einer Deckung treffen können.
- Bei Tech-Guns lassen sich die Schüsse aufladen, um mehr Schaden anzurichten. Nützlich ist vor allem, dass sich damit durch Objekte hindurchschießen lässt.
- Power-Guns hingegen feuern einfache Kugeln ab. Diese können aber von Objekten und Terrain abprallen und so weitere Ziele treffen.
So cool es auch ist, einem sich in Sicherheit wähnenden Gegner mit einer Tech-Gun durch einen Müllcontainer hindurch eine volle Breitseite zu verpassen: „Cyberpunk“ lädt den Spieler nicht dazu ein, sich auf die Such nach der besten Ausrüstung zu begeben.
Zum einen liegt das daran, dass das Spiel einen mit Loot überschüttet und das eigene Equipment deshalb schnell gegen neues mit leicht verbesserten Statuswerten ausgetauscht wird.
Diese Flut an Ausrüstungsgegenständen macht auch das Crafting-System von „Cyberpunk“ völlig obsolet. Warum soll ich jede Menge Talentpunkte investieren, um bessere Waffen bauen zu können, wenn mir das Spiel sowieso alle naselang eine bessere Wumme vor die verchromten Füße wirft?
Noch dazu gibt es von jeder Waffenklasse nur wenig unterschiedliche Modelle. Da kommt nicht gerade Spannung auf, wenn man zum hundertsten Mal dieselbe Schrotflinte findet, die drei Schaden mehr macht, als die bisherige.
Zwar gibt es Waffen, die unterschiedliche Schadenstypen wie Chemie oder Schock besitzen, deren Auswirkung ist im Spiel aber nicht zu spüren. Auch interessante Talente auf den Waffen gibt es quasi nicht. Legendäre und einzigartige Schießprügel existieren durchaus, die haben aber keine nennenswerten Eigenschaften.
Abseits der Waffen finden wir auch regelmäßig neue Klamotten. Dummerweise sind diese nicht nur kosmetischer Natur, sondern erhöhen auch unsere Rüstungswerte. Wer seinen V also bestmöglich vor gegnerischen Kugeln schützen will, muss akzeptieren, dass er die meiste Zeit im Spiel aussieht, als sei neben ihm ein Altkleidercontainer explodiert.
Ein Outfit bestehend aus einem Fedora-Hut gepaart mit einer kugelsicheren Weste, lila schimmernden Hotpants und türkisen Polizeistiefeln lässt zwar Karl Lagerfeld im Grab rotieren, bietet in der Welt von „Cyberpunk“ aber eben oft auch die besten Statuswerte.
Und selbst, wenn man mal ein halbwegs passendes Outfit um seine legendäre Jogginghose herum zusammengestrickt hat, liegen an der nächsten Straßenecke doch schon wieder die Netzstrümpfe mit dem besseren Rüstungswert.
Als wäre das Loot-System nicht schon kaputt genug, fällt auch noch das Ausrüstungsmenü höchstenfalls zweckmäßig aus. Warum zum Beispiel muss man Waffen immer erst ausrüsten, um die daran verbauten Aufsätze wie Visiere oder Schalldämpfer zu verändern?
Und weshalb lassen sich die Waffen im Inventar nur immer mit einer ausgerüsteten Kanone vergleichen? Die Menüs sind zwar keine Katastrophe, hätten aber wesentlich komfortabler und übersichtlicher gestaltet werden können.
Technische Fehler als Stimmungstöter
Auch wenn das Loot-System mehr nervt als motiviert: der Elefant im Programmcode von „Cyberpunk“ sind die zahlreichen Bugs, die das Spiel aktuell plagen. Dass Spiele von CD Projekt Red nicht vor Fehlern gefeit sind, weiß jeder, der in „The Witcher 3“ schon mal versucht hat, seinen Gaul Plötze von einem Häuserdach herunterzubekommen.
Aber hätten wir in unserem „Cyberpunk“-Testdurchlauf für jeden gefundenen Bug einen Erfahrungspunkt bekommen, wir hätten keine fünf Minuten spielen müssen, um unseren V auf das Maximallevel zu bekommen.
Autos, die durch Wände fahren; Nebencharaktere, die plötzlich mitten im Nirgendwo in der offenen Welt auftauchen; Gegner, die nicht zu Boden fallen, nachdem sie ausgeschaltet wurden – es gibt kaum einen Glitch, der uns in den rund 35 Stunden, die wir in Night City verbracht haben, nicht untergekommen ist.
Mit dem Sound hatten wir ebenfalls immer wieder Probleme. In einigen wichtigen Dialogen fingen beispielsweise alle Personen an, gleichzeitig und vollkommen wirr durcheinander zu sprechen. An anderen Stellen drang hingegen die Stimme von Charakteren so laut durch Wände, als würden sie direkt neben uns sitzen.
Vor allem die Immersion leidet unter diesen Fehlern. Eine vor unserem Gesicht schwebende Zigarette trägt schließlich nicht dazu bei, dass der tiefgreifende Dialog, den wir gerade mit Johnny Silverhand führen, an Dramatik gewinnt.
Und wenn uns unsere Begleiterin in einer Mission ständig ermahnt, leise vorzugehen, um dann alle 20 Sekunden zu brüllen, als stünde sie in der Fankurve eines Fußballstadions, wirkt das bestenfalls unfreiwillig komisch.
Game-Breaking-Bugs, die das Vorankommen im Spiel unmöglich machen, sind uns während des Tests nicht begegnet. Aber zahlreiche Berichte in den sozialen Medien zeugen davon, dass auch diese vorkommen.
Auch in unserem Umfeld musste ein Spieler einen neuen Spielstand anlegen, weil ein innerhalb einer Mission wichtiges Auto für ihn dauerhaft unsichtbar wurde. Und wir reden hier nur von der PC-Version. Die katastrophalen Umsetzungen für die PS4 und Xbox One X konnten wir nicht in Augenschein nehmen.
Entscheidungsfreiheit, die in Wahrheit nicht existiert
Dass die Entwickler das Spiel gesund patchen müssen und das auch wollen, daran haben sie in den Tagen seit dem Release keinen Zweifel gelassen. Bei einem anderen Kritikpunkt darf aber bezweifelt werden, dass er mit einem zukünftigen Update behoben wird – weil er viel stärker in der DNA des Rollenspiels verwurzelt ist.
Denn „Cyberpunk“ suggeriert dem Spieler am laufenden Band Entscheidungsfreiheiten und daraus resultierende Konsequenzen, die es so in Wahrheit nicht gibt.
Am einfachsten und ohne zu Spoilern, lässt sich das an den bereits erwähnten Lebenswegen skizzieren. Die Herkunft des Protagonisten macht nämlich in kaum einem Fall einen Unterschied.
In verschiedenen Situationen stehen dem Spieler je nach gewähltem Lebenspfad lediglich zusätzliche Dialogoptionen zur Verfügung. Diese eröffnen aber nie neue Pfade oder grundlegend andere Herangehensweise.
Ein Beispiel: In einer Mission werdet ihr mit der Rezeptionistin eines Nobelhotels konfrontiert. Weil diese ihren Pflichten nachkommen will, macht sie sich daran, einen Gast über eure Ankunft zu informieren. Schließlich wartet der angeblich bereits auf euch.
In Wirklichkeit ist besagter Gast aber nur ein Vorwand für den Job, den ihr tatsächlich in dem Hotel durchziehen wollt. Ein Anruf bei ihm würde also eure gesamte Operation auffliegen lassen.
Habt ihr den Konzerner-Pfad gewählt, wisst ihr, wie man mit aufmüpfigem Personal umspringt und macht die Dame für ihren eigentlich nett gemeinten Service so zur Schnecke, dass diese vermutlich nie wieder ungefragt ein Telefon anfasst.
Aber auch, wenn euer V einen anderen Hintergrund hat, fliegt er nicht auf. Als Streetkid macht ihr der Rezeptionistin schlicht weiß, dass ihr eine lange Reise hinter euch habt und erstmal eine Mütze Schlaf braucht. Daraufhin überlässt sie es euch, wann ihr euch bei eurem vermeintlichen Geschäftspartner meldet.
Zwar gibt es Momente, in welchen die Herkunft Vs über den Ausgang einer Situation entscheiden kann – als Streetkid kann man zum Beispiel einen Überfall nur mit Worten stoppen – aber in den allermeisten Fällen ist unser gewählter Lebenspfad nahezu belanglos. Vielmehr landet man so oder so, mit minimal voneinander abweichenden Gesprächen, beim letztlich immer selben Ergebnis.
Das lässt sich in sehr vielen Aspekten auf das gesamte Spiel übertragen. Hunderte Zeilen an Dialog sind im Grunde vollkommen irrelevant, weil die Reaktionsmöglichkeiten entweder nur sprachliche Variationen derselben Antwort sind, oder es völlig egal ist, welche wir davon auswählen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es ist nicht so, dass die Entscheidungen, die der Spieler trifft, gar keinen Unterschied machen. Das tun sie durchaus. Innerhalb der Hauptmissionen lässt sich etwa ein verstecker Boss-Kampf finden und in einer Mission bekommen wir es – je nachdem, für welche Seite wir uns entscheiden – mit unterschiedlichen Gegnern zu tun.
Viele Nebenquests stellen uns hingegen vor moralische Fragen, die wir auf unterschiedliche Arten beantworten können und die den Ausgang der Dinge teilweise stark verändern. Selbst ob wir uns den Weg frei schießen oder leise an unseren Gegnern vorbeischleichen, kann einen Unterschied machen.
Beispiellose Aktion: Sony wirft "Cyberpunk 2077" aus PlayStation-Store
Nur hat fast nichts davon Relevanz dafür, wie die Geschichte um V tatsächlich zu Ende geht. Das wird besonders an der Hauptgeschichte von „Cyberpunk 2077“ deutlich.
Die dauert rund 20 bis 25 Stunden und tut in dieser Zeit so, als würde man am laufenden Band weitreichende Entscheidungen treffen. Vereinfacht ausgedrückt ist es aber nur ein einziger Moment im Spiel, der bestimmt, welchen der verschiedenen finalen Akte wir zu sehen bekommen.
Denn jede Variation des Endes von „Cyberpunk 2077“ entspinnt sich ab einem festgelegten Punkt. Ohne zu wissen, wie die weiteren Geschehnisse für V ausgehen können, wählt man als Spieler an diesem „Point of no Return“ aus einem Pool an verschiedenen Möglichkeiten das weitere Vorgehen aus.
Je nachdem, wofür man sich entscheidet, endet dann das Abenteuer in Night City. Einige der Enden können dabei in verschiedenen Variationen auftreten, weil wir innerhalb des finalen Akts noch einmal mit Entscheidungen konfrontiert werden.
Der Knackpunkt an dem System von CD Projekt Red ist allerdings, dass die Zahl der Optionen an diesem Wendepunkt der Geschichte nicht durch unser Verhalten in den Hauptmissionen beeinflusst wird.
Was man auch tun: Es stehen immer nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung.
Das lässt sich nur ändern, wenn man einige wenige Nebenmissionen abgeschlossen haben. Diese geben dann weitere Entscheidungsmöglichkeiten und damit auch weitere Enden.
Cyberpunk stellt eine RPG-Tugend auf den Kopf
Das ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens, weil unsere Taten in der Hauptgeschichte so gut wie keinerlei Bedeutung haben – obwohl uns das Spiel etwas anderes glauben machen möchte.
Und zweitens, weil sich diese durch die Nebenmissionen erreichbaren alternativen Pfade nicht ausschließen. Als Spieler muss man sich nicht entscheiden, welche Möglichkeiten man sich für das Finale offen halten möchte. Man kann schlicht jede dieser Missionen absolvieren und dann wählen, auf welches Ende man Lust hat.
Dazu kommt noch, dass uns das Spiel nach Abschluss der Geschichte einfach wieder vor den Moment springen lässt, an dem wir die weiteren Geschehnisse bis zu den Credits festlegen. Das führt das Entscheidungsprinzip schon fast ad absurdum.
Nicht nur, dass damit das Ende unseres Charakters negiert wird. Wir können nun auch einfach alle Nebenquests abschließen und dann jedes einzelne Finale durchlaufen.
Diese Mechanik senkt außerdem die Motivation, das Spiel mehrfach durchzuspielen. Warum soll ich nochmal die gesamte Hauptstory abschließen, wenn ich doch auch einfach alle Enden in einem Durchlauf erreichen kann?
All das muss einen nicht stören. Schließlich kann nicht jedes Spiel ein „The Witcher 2“ sein, bei dem man komplett unterschiedliche Hauptgeschichten spielt, je nachdem, auf wessen Seite man sich nach dem ersten Akt schlägt.
Die Art, wie „Cyberpunk“ mit seinen Enden umgeht, kann für manche Spieler sogar von Vorteil sein. Etwa weil sie gar keine Lust oder Zeit dazu haben, das Spiel mehrfach durchzuspielen.
Aber das bewährte Rollenspiel-Prinzip, dass Entscheidungen Konsequenzen nach sich ziehen und man als Spieler mit diesen leben muss, trifft in „Cyberpunk“ eben nur in kleinem Maße zu.
Gerade Hardcore-RPG-Fans, die ihre Motivation oft aus dem Zusammenspiel von Ursache und Wirkung beziehen, könnte dieser Punkt abschrecken.
Bei uns hat das Wissen, welche Entscheidungsfreiheiten man in „Cyberpunk“ wirklich genießt, zumindest einen faden Beigeschmack hinterlassen.
Kein Meisterwerk, aber ein besonderes Spiel
Die Erwartungshaltungen an „Cyberpunk 2077“ als zu hoch zu bezeichnen, wäre in etwa so daneben, wie die Corona-Pandemie als kleine Unannehmlichkeit zu beschreiben.
Im Laufe der rund acht Jahre, die zwischen der Ankündigung des Spiels und seiner Veröffentlichung liegen, wurde der Titel innerhalb der Gaming-Community regelrecht zum Gaming-Messias stilisiert.
Daran ist auch CD Projekt Red nicht unschuldig. Mit geschickter PR trugen die polnischen Entwickler einen nicht eben kleinen Teil dazu bei, dass „Cyberpunk“ den Ruf eines Videospiel-Meilensteins innehatte, bevor es irgendjemand eine einzige Minute gespielt hatte.
Die Frage, ob es dem Hype gerecht wird und tatsächlich ein Meisterwerk ist, hängt deswegen seit der Veröffentlichung in der Luft. Unsere Antwort darauf lautet: Nein, ist es nicht.
„Cyberpunks“ Gameplay ist in keinster Art und Weise revolutionär geworden. Vielmehr kombiniert das Spiel altbekannte Mechaniken zu einem stimmigen und spaßigen, aber qualitativ nicht immer befriedigenden Ergebnis.
Die Hauptgeschichte läuft zwar den meisten Videospiel-Narrativen den Rang ab. Doch an einigen wenigen, dafür umso wichtigeren Stellen kann sie nicht völlig überzeugen.
Deshalb kann sie die spielerischen und technischen Schwächen des Titels auch nicht völlig aufwiegen. Dafür opfert CD Projekt Red einfach zu viele spielerische Feinheiten im Namen des Story-Fokus.
Spieler, die sich von der Welt und ihren Charakteren nicht in ihren Bann ziehen lassen können oder wollen, dürften deshalb nicht viel entdecken, was sie für anderweitige Schwächen entschädigt.
Umgedreht ist aber vor allem die Art und Weise wie „Cyberpunk“ seine Geschichte erzählt meisterlich und sorgt dafür, dass Night City definitiv aus der Flut an zeitfressenden Open-World-Einheitsbrei-Spielen der letzten Jahre heraussticht.
Die Atmosphäre der Welt ist zum Schneiden dicht, die Charaktere wirken durch die Bank hindurch glaubhaft und die Inszenierung lässt selten zu wünschen übrig.
„Cyberpunk 2077“ ist ein Spiel, das vor allem Geschichten erzählen will, die beim Spieler hängen bleiben und diesen emotional mitnehmen. Auch wenn man die Story durchaus kritisieren kann, gelingt das den Entwicklern in unseren Augen wie nur wenigen anderen in den letzten Jahren.
Wer sich also auch nur ein wenig für gut inszenierte Geschichten begeistern kann, sollte „Cyberpunk“ definitiv spielen. Wir zumindest haben unsere Zeit in Night City trotz aller Mängel des Spiels fast immer genossen.
Wenn man sich für das Spiel entscheidet, sollte man aber eine Sache tun, die man in all den Jahren der Vorfreude auf „Cyberpunk 2077“ gelernt hat: warten. Denn die Bugs drücken das Spielerlebnis aktuell doch noch sehr. Wer also in ein paar Wochen oder Monaten zugreift, dürfte sich deutlich mehr an seiner Odyssee durch Night City erfreuen.
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