Kinoregisseur Visar Morina über seinen Theater-Live-Film: Einsam sind wir alle

München – Dass man in seinem Spam-Ordner Emails mit dubiosen Service-Versprechen findet, kommt durchaus häufig vor. Dass aber jemand diese „Kundendienste“ abtelefoniert, um die Nerven der Telefon-Agenten mit erfundenen Problemen zu strapazieren und sie zu einem ehrlichen Dialog aufzufordern, ist schon eine seltsam-seltene Idee. „C“, Protagonist des Stücks „Flüstern in stehenden Zügen“, tut aber genau das.

Visar Morinas Inszenierung als Theater-Live-Film-Premiere

Visar Morina hat bislang als Filmregisseur mit zwei preisgekrönten Spielfilmen, „Babai“ (2015) und „Exil“, Furore gemacht. Mit der Uraufführung des neuen Bühnenwerks von Clemens J. Setz sollte er nun seine Theatertaufe im Werkraum der Kammerspiele erleben, aber aufgrund der Pandemie wird es jetzt doch erstmal recht filmisch: Am Sonntagabend um 20 Uhr wird die Inszenierung als Theater-Live-Film-Premiere in die heimischen Wohnzimmer gestreamt.

AZ: Herr Morina, haben Sie selbst Erfahrungen mit Spam-Emails und Service-Hotlines gemacht?
VISAR MORINA: Ja. Wobei ich Erfahrungen mit Service-Hotlines gemacht habe, die leider nicht als Spam getarnt waren. Zum Beispiel hatte ich große Probleme mit meinem Telefonanbieter und fragte mich stets bei jedem Anruf, warum nicht viel mehr Menschen wegen solcher Dinge durchdrehen.

„Stück weniger eine Erzählung als eine Zustandsbeschreibung“

In „Flüstern in stehenden Zügen“ lässt der Protagonist C seine Wut immer wieder heraus und hat es dabei mit „Service-Personal“ zu tun, das irgendwo in Osteuropa oder Spanien am Apparat sitzt.
Auch das habe ich schon ähnlich erlebt: Ich wollte nach Pristina fliegen, weil dort eine Familienfeier stattfand. Weil meine Tasche angeblich zwei Zentimeter zu groß war, bekam ich Probleme, bis mein Flug verstrichen war. Ich dachte mir, okay, ich leihe ein Auto, fahre bis nach Österreich und von dort aus mit dem Bus nach Pristina. Bei einer Autovermietung im Flughafen habe ich ein Auto geliehen. In der Garage merkte ich, dass es einen Schaden hat. Ich rief bei der Nummer an, die man mir für diesen Fall gegeben hatte. Die Dame meinte, ich sollte ein Foto machen und eine Email schreiben. Ich meinte: „Könnten Sie nicht einfach jemanden runterschicken? Sie: „Wie denn? Ich bin in Barcelona!“

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Was durch dieses Outsourcing verloren geht, ist ganz konkret die menschliche Nähe.
Genau, das ist auch der Aspekt, auf den wir uns in der Inszenierung konzentrieren. Wir empfinden das Stück weniger als eine Erzählung als eine Zustandsbeschreibung: Es geht um diese alltägliche Erfahrung der völligen Entkopplung, das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht. Für die Effizienz eines Unternehmens macht das vielleicht Sinn, aber der menschliche Zugang wird einem entzogen.

Morina: Wir sehnen uns nach Kontakt, aber schämen uns dafür

Wodurch Menschen wie „C.“, die sowieso schon alleine wohnen, noch mehr vereinsamen.
Ja. Im Normalfall trifft man in seinem Alltag ständig andere Leute. Wenn aber die einzige Möglichkeit, wie man Kontakt zur Außenwelt aufnehmen kann, das Telefon ist und die einzigen Menschen, die ich anrufen kann, nur solche sind, die mich abzocken wollen, dann ist mein Zugriff auf die Welt stark beschränkt. Insofern erlebt die Figur einen Höchstgrad an Vereinsamung. Wobei wir dieses Gefühl alle kennen, es aber offenbar verheimlichen müssen. Es ist doch merkwürdig: Wir wissen, dass wir uns alle nach Kontakt sehnen, das macht das Menschliche ja auch aus, und dennoch schämen wir uns dafür. Es gehört schon wahnsinnig viel Mut dazu, sich hinzustellen und zu sagen: Ich bin einsam.

Als Clemens J. Setz das Stück schrieb, gab es die Corona-Krise noch nicht. Ihm ging es wohl vor allem um den globalisierten Kapitalismus, in dem der Einzelne um jeden Preis geschröpft wird.
Ja. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als die Fließbänder in den Supermärkten um einiges länger waren und es möglich war, auch mal ein Wörtchen mit der Person hinter der Kasse zu wechseln. Mittlerweile wurden die Bänder verkürzt, es geht alles viel schneller, es gibt keine Möglichkeit mehr für ein Innehalten, ein Gespräch. In unserem Fall geht es aber weniger um Kapitalismuskritik oder die Corona-Krise. Ich glaube, dass es auch viele Menschen gibt, die auch ohne Corona vereinsamt sind.

Menschen verlieren das Gefühl für ihren eigenen Körper

Als einsamer Held taugt C. aber nicht. Er spricht die Service-Leute zum Beispiel häufig darauf an, dass sie Deutsch mit Akzent sprechen. Einmal wird er deswegen auch als „Nazi“ beschimpft.
Das haben wir anders gelöst. Bei uns bringt C. seinem weiblichen Gegenüber einmal bei, wie sie ausländisch klingen kann. Sonst wollte ich diesen Aspekt aber weglassen. Ich finde es problematisch, wenn Schauspieler, die eine Sprache perfekt beherrschen, sie auf der Bühne mit Akzent sprechen.

Die Figur C. wird von Bekim Latifi gespielt. Und Leonie Schulz spielt alle Menschen, die er anruft?
Nein. Leonie Schulz spielt eine Art Gespenst. Es heißt, wenn Menschen über längere Zeit nicht berührt werden und sich selbst auch nicht berühren, verlieren sie das Gefühl für ihren eigenen Körper. Wir stellen uns jetzt jemanden vor, dem diese Selbstvergewisserung fehlt. Es gibt keine Strukturen für C., keine Rituale, um die Zeit irgendwie zu ordnen, wodurch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem einzigen Mischmasch für ihn werden.

Womit wir doch wieder beim Zeitempfinden während des Lockdowns sind.
Stimmt. C. arbeitet selbst in einem Reparaturladen für Computer. Es gibt dann eine Kundin im Stück, mit der er eine Beziehung anfängt. Diese Kundin haben wir komplett in die Vergangenheit verlegt.

Morinas erste Theaterarbeit: „Ich meinte, auf keinen Fall Video, ich will Theater machen! „

Das ist Ihre erste Theaterarbeit und ausgerechnet die gleitet jetzt doch ein bisschen ins Filmische.
Ja, das wollte ich eigentlich nicht. Am Anfang hieß es von Seiten des Hauses, ob wir Video einsetzen wollen. Ich meinte, auf keinen Fall Video, ich will Theater machen! Aber nach dem Lockdown kamen Überlegungen auf, ob man das nicht doch erstmal streamen soll. Ich habe Patrick Orth angerufen…

…der Kameramann bei „Toni Erdmann“ war…
…und fragte ihn, ob er mit mir zusammen Theater machen will. Jetzt sind wir seit einem Monat hier und versuchen, einen „Theater-Live-Film“ zu drehen.

Nach dem Lockdown wird es aber auch eine „physische“ Premiere auf der Bühne geben. Abgesehen von den filmischen Aspekten: Wie war es für Sie, erstmals fürs Theater zu inszenieren?
Es war sehr schön, wirklich das Größte! Wenn beim Drehen eine Szene funktioniert, ist das zwar auch großartig. Aber weil Dreharbeiten unfassbar geldaufwändig sind, ist am Set kaum Zeit, um spontan etwas anderes zu versuchen. Jetzt konnte ich morgens eine Idee haben, dann auf diese Spielwiese gehen und schauen, ob sie vielleicht funktioniert. Ich habe mich dabei wie ein kleines Kind gefühlt: Es ist toll, dass man im Theater so viel ausprobieren kann. Ich möchte zwar unbedingt weiter drehen, bin aber jetzt schon traurig, dass ich nächste Woche nicht mehr hier bin. Es war für mich so ein Kick.

Premiere am Sonntag, 20 Uhr; weitere Livestream-Aufführungen: Dienstag, 9.2., und Dienstag, 25.2., ebenfalls 20 Uhr. Visar Morinas preisgekrönter Spielfilm „Exil“ ist jetzt als DVD erhältlich (Alamode).

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