München – Harry Styles, das lässigste Teenie-Idol, seit es Boygroups gibt, war im Herbst 2020 nicht nur der erste Mann auf dem Cover der US-Vogue, sondern trug dazu noch Rüschen-Kleid – und sah darin großartig aus. Queere Ästhetik ist im Hochglanz-Segment angekommen; die Realität allerdings ist für Männer in Frauenkleidern in vielen Ländern der Welt noch wesentlich härter.
Die Antworten auf die Frage nach dem Geschlecht sind vielfältiger denn je
Unter dem Titel „Paradise Lost #gender shift“ widmet sich jetzt ein mehrteiliges Ausstellungsprojekt dem Themenfeld von Gender, Sexualität und Identität im DG-Kunstraum, in der Galerie der Künstler und der Platform, begleitet von einem umfangreichen Programm mit Performances und Diskussionen. Denn die Antworten auf die Frage nach dem Geschlecht sind vielfältiger denn je, und – ob „LGBT“ oder „Q“ – die Variationen der Sexualität ebenso.
Wenn selbstbestimmte Sexualität gesellschaftliche Ächtung bedeutet
Die Schau im DG-Kunstraum, deren Schwerpunkt auf Fotografie liegt, präsentiert ein breites Spektrum der Möglichkeiten, sich mit dieser Vielfalt künstlerisch auseinanderzusetzen. Das ist mitunter schmerzhaft und erschütternd: Vor allem in Tejal Shahs Foto-Arbeit „Waiting I +II“, die den nackten, dürren Körper einer Transfrau zeigt, die sich prostituiert.
Vielerorts zieht selbstbestimmte Sexualität eben noch gesellschaftliche Ächtung oder gar Verfolgung nach sich – und führt in eine Lebenssituation, in der sexuelle Ausbeutung Alltag ist.
Harry Hachmeister: „Arkadischer Jünglingsakt“
Dabei ist die sexuelle Selbstfindung ohnehin ein komplexer, sensibler Prozess. Eine Etappe auf diesem Weg markiert das Werk „Arkadischer Jünglingsakt“ von Harry Hachmeister. Tischbeins Porträt von Goethe in der Campagna, die halb sitzende, halb liegende Pose des Dichters ist ein Klassiker.
Hachmeister bezieht sich eindeutig auf Tischbein – und doch ist vieles anders: Der Künstler porträtierte sich, auf einer Travertin-Bank über mediterranen Hügeln nackt, liegend und von hinten – vor seiner Umwandlung in einen Transmann. Dem Betrachter wendet er die Rückseite zu, die verletzlichere Seite seines Körpers sieht nur das bukolische Paradies.
Pola Sieverding fängt ambivalente Momente ein
Eine ganz andere Körperlichkeit fangen die Aufnahmen von Pola Sieverding ein: Ambivalente Momente körperlicher Nähe, in denen man kaum erkennen kann, ob es sich um Zärtlichkeit oder Brutalität zwischen den Männern handelt – aber es sind Szenen eines Boxkampfes.
Und auch an weiblicher Selbstermächtigung arbeiten sich einige der Beteiligten ab: Die unerschrockene Valie Export bot einst nicht nur ihr „Tapp- und Tastkino“ an, sondern setzte ihren Körper 1972 auch provokant als Opfer eines Gewaltverbrechens in Szene. Und die wesentlich jüngere Cihan Cakmak reizt in ihren Selbstinszenierungen die Grenzen dessen aus, was noch von der Familie geduldet und/oder von der Gesellschaft akzeptiert wird.
Tilman Riemenschneider: Pointierte Büßerinnen-Paraphrase
Biblische Frauenrollen wiederum nehmen Julia Krahn und Jutta Burkhardt unter die Lupe. Krahn inszeniert etwas andere Bilder von Eva (lieber das „Böse“ in die Welt lassen oder unmündig bleiben?) und Maria (eine Madonna ohne Kind).
Burkhardt führt mit „Mary“ Tilman Riemenschneiders ganzkörperbehaarte Maria Magdalena aus dem Bayerischen Nationalmuseum in die Gegenwart fort. Viel mehr als sehr lange Haare braucht es gar nicht, um eine pointierte Büßerinnen-Paraphrase darzustellen.
Mit proaktivem Humor (und Lichtschwertern bewaffnet) bringt Sophia Süßmilch schließlich die Ungeduld über den nicht enden wollenden, von Rückschlägen geprägten Prozess der Emanzipation auf den Punkt: „Wir wollen keine Gleichberechtigung, wir wollen Rache.“
DG-Kunstraum (Finkenstraße 4), bis 18. Juli; Platform (Kistlerhofstraße 70/Haus 60/3. OG), bis 26. Juni; Galerie der Künstler (Maximilianstraße 42), 25. Mai bis 20. Juni, umfangreiches Begleitprogramm unter www.dg-kunstraum.de und; www.platform-muenchen.de.
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