Eine KritikvonPatricia Kämpf Diese Kritik stellt die Sicht von Patricia Kämpf dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.
Es gibt Menschen, die sagen, Abitur würde überbewertet. Im Film „Sonne und Beton“ ist Abitur jedoch die einzige Möglichkeit. Damit aus einer Problemjugend kein Problemleben wird.
Ohne Abitur bleibt man im Problemviertel kleben, so wie Lukas (Levy Rico Arcos) und Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) mit ihren Socken am widerlich-siffigen Fußboden in Julius’ (Vincent Wiemer) Kellerlochwohnung. In seiner eigenen Wohnung lässt Lukas die neuen Reebok-Sneaker an. Sauber ist es da schon, aber Platz ist auch keiner da.
Denn Lukas quetscht sich mit seinem Vater (Jörg Hartmann ), dessen neuer Freundin und ihrem Sohn in wahrscheinlich gerade mal 40 Quadratmeter. Lukas’ älterer Bruder ist auch irgendwo, aber nie wirklich da. Sein Vater hat es an die Uni geschafft, dank eines Teilzeitarbeitsvertrags als Hausmeister. Wer kein Abitur hat, quetscht sich ein Leben lang in die Gropiusstadt.
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„Sonne und Beton“: Alles genau so passiert, oder auch nicht „Sonne und Beton“ erzählt die Geschichte des etwa 15-jährigen Protagonisten Lukas und seiner drei Freunde Sanchez, Julius und Gino (Rafael Luis Klein-Heßling), die in Neukölln aufwachsen.
Felix Lobrecht kommt selbst aus diesem Problemviertel, hat Abitur gemacht und „Sonne und Beton“ nach seinen eigenen Erinnerungen an seine Jugend geschrieben. Ist alles genau so passiert, heißt es am Anfang des Films. Oder auch nicht, wird gleich hinterhergeschoben. Was wahr ist und was nicht, was der 15-jährige Felix durchgemacht hat und was der Film-Lukas hier nacherzählt, ist aber unerheblich.
Denn der Film blickt in Problemviertel, stößt Türen auf in Wohnungen, die manchmal nur mit Umzugskartons möbliert sind. Lässt einen mit beinahe ungläubigem Blick an den Schulstunden teilhaben, die eigentlich immer außer Kontrolle geraten. Die Lehrer haben die Kontrolle vor dem Schultor an die Security-Firma abgegeben, die die Schülerinnen und Schüler morgens vor dem Eisentor ihre hellblauen Schülerausweise vorzeigen lässt. Wer keinen dabei hat, kommt nicht rein. Wenn es nicht ums Abitur ginge, wäre es beinahe wurscht, denn das Chaos drinnen ist ebenso groß wie das Chaos draußen.
Wer das Buch „Sonne und Beton“ nicht gelesen hat: Das macht nichts, der Film funktioniert trotzdem. Man ist sofort mittendrin im Berlin der frühen 2000er, es gibt Blutorangenwodka und Handys, bei denen das Guthaben mit Sternchen 100 Raute abgefragt wird. In Lukas’ Kinderzimmer sitzt Flat Eric. Alle schwitzen im Rekordsommer 2003, es ist heiß und grell und unbarmherzig
Auch die Sprache ist derb. „Was bist du für ‘ne Pussy, Alter?“, „Shu was los, du Abkacker?“ und „Fick nich mit den falschen Leuten, ja“. Gossensprache in Neukölln, kein Stilmittel. Aber gerade das macht den Film aus. Die großartigen jungen Schauspieler sagen keine Texte auf – sie sind vielmehr Lukas, Sanchez, Julius und Gino. Die Hauptrollen wurden laut „Constantin Film“ bundesweit gecastet, über 5.000 Jugendliche haben sich entweder selbst beworben oder wurden auf der Straße angesprochen. Regie führte David Wnendt, der mit Felix Lobrecht auch das Drehbuch geschrieben hat.
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„Sonne und Beton“ ist anstrengend. Kein Film, den man sich mal so nebenher am Sonntagnachmittag anschaut. Der Film verlangt seinen Zuschauerinnen und Zuschauern ab, wirklich hinzuschauen, wenn die Jungs statt in die Schule in eine Schlägerei geraten und die Stirn unter einem Faustschlag aufplatzt.
Auch die Musik mischt sich mühelos unter die grell-gelben Bilder der Gropiusstadt, kommt von Hiphop-Stars wie Luvre47 und Lucio101, die beide selbst mitspielen, Juju und Olexesh. Sie kommen selbst aus Berlin und deswegen wirkt „Sonne und Beton“ gar nicht so sehr wie ein Spielfilm, sondern beinahe wie eine Dokumentation über ein Problemviertel der Hauptstadt.
Die 2000er-Version von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Oder wie die 2000er-Version von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Das Buch und der Film aus den Siebzigern und Achtzigern erzählen die Heroinabhängigkeit von Christiane F., ebenfalls aus der Gropiusstadt. In „Sonne und Beton“ geht es nicht um Drogen, die tieferliegenden Probleme sind aber die gleichen: Jeder kommt aus einer Problemfamilie, Geld fehlt überall, der Migrationsanteil ist hoch, jeder ist Täter oder Opfer. Oder beides.
Felix Lobrecht (M.) mit den (v.l.) "Sonne und Beton"-Schauspielern Rafael Luis Klein-Heßling, Aaron Maldonado-Morales, Vincent Wiemer und Levy Rico Arcos bei der Berlinale.© picture alliance/dpa/Jörg Carstensen „Sonne und Beton“ ist das neue „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Sollte man gelesen oder gesehen haben, vor allem wenn man aus einer Kleinstadt in Bayern oder Nordrhein-Westfalen kommt und das größte Problem in der Jugend gewesen ist, dass das Geld nicht für die neuen Buffalos oder den Gameboy gereicht hat. Der Urlaub hat aber trotzdem jedes Jahr an der italienischen Adriaküste stattgefunden.
Felix Lobrecht ist mit seinem Bruder, seiner Schwester und seinem Vater in Berlin aufgewachsen, geboren 1988. Seine Mutter starb früh, Geld war eigentlich nie da. Wer seinen Podcast „Gemischtes Hack“ hört, kennt Lobrechts Geschichte. Oder wer ihn mal live auf der Bühne gesehen hat. Er füllt mühelos Stadien. Vergangenes Jahr haben sich etwa in der Lanxess Arena in Köln über 30.000 Menschen an zwei Abenden hintereinander das Bühnenprogramm „All You Can Eat“ des Stand-up-Comedian angeschaut.
Den Stand-up-Comedian sucht man allerdings in „Sonne und Beton“ vergebens. Dem Film-Lukas wird zwar in der Schule gesagt, dass er gut mit Sprache umgehen kann. Aber Witze oder Jokes, wie Lobrecht das nennt, reißt er so gut wie keine. Vielleicht ist Lukas dafür aber noch drei, vier Jahre zu jung. Im Film hält er noch eine echte Waffe in der Hand, um sich zu wehren. Vielleicht entdeckt er Humor als Waffe in einem zweiten Film. Ob es den gibt? Das hat Felix Lobrecht zumindest bei der Premiere in Berlin angedeutet – den müsse er aber erst noch schreiben.
„Sonne und Beton“ läuft ab Donnerstag, 2. März 2023, in den Kinos.
Verwendete Quellen: