Der erste Fall für das "Tatort"-Team in Berlin: "Nichts als die Wahrheit"

Natürlich ist es ungerecht, diesen „Tatort“ mit „Borgen“ zu vergleichen. Das eine ist eine Doppelfolge Sonntagabendkrimi, das andere eine der besten und erfolgreichsten Politserien der Welt, die viele Folgen lang Zeit hatte, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte vom Aufstieg (und Fall) der engagierten Politikerin Birgitte Nyborg (Sidse Babett Knudsen), die völlig überraschend dänische Premierministerin wird.

Eine KritikvonIris Alanyali

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Warum wir „Borgen“ hier trotzdem anbringen? Zum einen, weil Corinna Harfouch als Susanne Bonard irgendwie an Birgitte Nyborg erinnert. Und nicht nur, weil die neue Ermittlerin im Berliner „Tatort“ sich auch elegant kleidet, einen liebenden Ehemann hat, in einem schicken Altbau wohnt und die Küchenschränke garantiert auch voll skandinavischer Designerware stecken. Beide Figuren sind Idealistinnen, beide Frauen wissen bei allem Charme und aller Freundlichkeit ganz genau, was sie wollen, und beide sind Familienmenschen mit einer (nicht immer) gesunden Dosis Egoismus und Starrsinn.

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Jedenfalls nehmen wir das an – viel erfahren wir über Susanne Bonard in ihrem ersten Fall nämlich nicht. Das fällt ganz besonders auf, weil Kommissar Robert Karow (mit einer Glanzleistung Mark Waschkes) zuletzt in einem ungeheuer starken Fall im Alleingang so viel von sich preisgab.

„Nichts als die Wahrheit“ hingegen ist ein hochengagierter Politkrimi, der sein tagesaktuelles Thema dermaßen angemessen vielschichtig erzählen will, dass die beteiligten Menschen darüber auf der Strecke bleiben. Komplizierte Sachverhalte stattdessen über menschliche Schwächen und Stärken zu erzählen, war einer der Gründe für den Erfolg von „Borgen“.

Von der Polizeiakademie zurück in die Realität

Fangen wir mit dem Menschlichen in „Nichts als die Wahrheit“ an. Susanne Bonard ist eine Legende des Landeskriminalamts. Sie hat ein Standardwerk über Polizeiarbeit im Rechtssystem geschrieben und sorgt inzwischen als Lehrkraft an der Polizeiakademie dafür, dass junge Polizeianwärter sich bei ihrer Arbeit von der demokratischen Grundordnung leiten lassen und nicht von persönlichen, womöglich fremdenfeindlichen Vorurteilen.

Die elegante Frau Bonard lebt in einer schönen Altbauvilla im Grünen, hat einen sympathischen grauhaarigen Hund namens Karl und einen noch sympathischeren Ehemann namens Kaya Kaymaz (Ercan Karaçayli), der als Richter arbeitet und einen türkischen Großvater mit einem reichen Fundus an weisen Redewendungen und einen deutschen Großvater mit eher zweifelhafter Nazi-Vergangenheit hat. Im Untergeschoss der Villa wohnt der 25-jährige Sohn. Tom (Ivo Kortlang) studiert Histologie: Die Tierpräparate, die er dafür in seinem Zimmer seziert, werden liebevoll im Familienkühlschrank gelagert.

Das klingt alles ganz vielversprechend. Aber genug gemenschelt: Robert Karow wird ins Haus einer erschossenen Polizistin gerufen. Die hat am Vorabend sehr verzweifelt ihre einstige Lehrerin Bonard angerufen. Bonard erinnert sich allerdings ungern an Rebecca Kästner (Kaya Marie Möller) und ihre rassistischen Witze und hatte sie abgewimmelt. Jetzt fühlt Susanne Bonard sich schuldig. Außerdem hat sie sich an der Akademie wieder einmal mit einem rechtsgerichteten Kollegen und dessen drastischen Lehrmethoden angelegt. Sie ergreift die Gelegenheit zu einer Lehrpause und lässt sich von ihrer Freundin, der Polizeipräsidentin, an Karows Seite versetzen.

Wenn nur alles im Leben und im „Tatort“ so einfach wäre. Aber dem Mord an Rebecca Kästner folgen weitere, und diese Morde ziehen Kreise bis in die höchsten Ebenen.

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Rechtsradikale Tendenzen und der „Code of Silence“

Stefan Kolditz und Katja Wenzel haben mit „Nichts als die Wahrheit“ eine Geschichte über den Code of Silence (demzufolge Kollegen nicht verraten werden) geschrieben, über Racial Profiling, über die neue Rechte, die längst viel raffinierter denkt und vorgeht, als das Klischee von Nazi-Dumpfbacken in fleckigen Jogginghosen vorgaukelt. Es geht um rechtsradikale Tendenzen nicht nur bei der Polizei, sondern auch beim Verfassungsschutz und in der Rechtssprechung. Das Böse ist immer und überall, es herrscht ein engmaschiges Netz, das zwielichtige Gestalten geknüpft haben und mit dem ahnungslosen Bürgern und Bürgerinnen der demokratische Boden unter den Füßen weggezogen werden soll.

„Nichts als die Wahrheit“ ist ganz offensichtlich intensiv und solide recherchiert. Und dann wurde das ganze Material in einen „Tatort“ gepresst. Immerhin eine Doppelfolge. Was dazu führt, dass man sich richtig lange Zeit zur Vorbereitung des eigentlichen Falles ließ: Fast eine Stunde lang ermitteln Karow und Bonard getrennt voneinander, finden aber dieselben Antworten und kommen zu demselben Ergebnis: Es gibt rechtsradikale Tendenzen bei der Polizei. Ach.

Doch das ist ja noch nicht alles: „Es ist größer, als ich dachte“, wird mehrmals geraunt. Um die Komplexität und Tragweite der Angelegenheit zu schildern, müssen zahllose Akteure ins Visier genommen werden. Gleich mehrere undurchsichtige Schutzpolizisten und Polizeianwärterinnen. Ein noch undurchsichtiger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Ein schlappschwänziger Polizeiakademiedirektor. Sein labiler Sohn. Der unsympathische Leiter einer privaten Sicherheitsfirma, die liebend gern frustrierte Ex-Polizisten und -Polizistinnen anheuert. Bemitleidenswerte syrische Flüchtlinge. Der noch bemitleidenswertere kleine Sohn der toten Polizistin. Sein Vater, den Robert Karow aus völlig unnötigen Gründen eine Weile lang für den Hauptverdächtigen halten muss.

Fehlende Drohkulisse: Es fehlt ein bisschen „Borgen“

Es sind zu viele Figuren, für die kaum Interesse aufkommt, nur Verwirrung. Zu viele kryptische Andeutungen, die nicht neugierig machen, sondern ungeduldig. Steife Dialoge, auch zwischen Karow und Bonard, die sich eigentlich intellektuelle Speerspitzen zuwerfen könnten, aber nur steif fremdeln dürfen.

Dem Film (Regie: Robert Thalheim) fehlt vor allem im blutleeren ersten Teil das Tempo, es fehlt das Gefühl der Bedrohung, das doch eigentlich aufkommen müsste bei uns Zuschauenden, wenn uns eine Geschichte von der schleichenden, aber steten Erosion unserer Demokratie erzählt wird. Und wenn man selbst am Ende dieses Doppel-„Tatort“ nicht wirklich weiß, wer da welches Spiel spielt, und ob alle Übeltäter bestraft wurden, ist das auch eher frustrierend als angsteinflößend.

Wenn ein Krimi dasselbe erzählen will wie das, was Enthüllungen über den NSU-Prozess, über die Razzia gegen Reichsbürger, über die rechtspopulistischen Entgleisungen eines hochrangigen Juristen und weitere beunruhigende Berichte bereits öffentlich gemacht haben, dann muss er das mit anderen Mitteln tun als gut recherchierte journalistische Reportagen. Ein bisschen „Borgen“ hätte Bonards erstem Fall ganz gutgetan.

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