Ganz am Schluss kommt der Nachbar im Unterhemd mit einem Topfkaktus in der Hand auf die Bühne. Kakteen und weitere Grünpflanzen schmückten die Bühne von Aida Leonor Guardia immer wieder im Verlauf des Abends.
Sie stehen für eine gewisse bürgerliche Behaglichkeit und die Erde im Blumentopf, so legt eine der vorigen Szenen nahe, hat etwas mit der Endlichkeit des Lebens zu tun, das zuverlässig zu der Erde werden wird, aus der es gekommen ist.
Der Nachbar mag aber nicht über die letzten Dinge philosophieren, sondern beschwert sich wütend über den Lärm, der hier gerade herrschte. Ensemblemitglieder des Staatsschauspiels hatten bretthart „Moneytalks“ von AC/DC interpretiert.
Es geht um die moralischen Kronjuwelen des christlich-jüdischen Abendlandes
Abendfüllende Lautstärke hätte man von Calixto Bieito, dem schon seit Jahrzehnten der solide Ruf eines „Soziologen des suburbanen Gewaltexzesses“ mit der „Ästhetik einer Müllpresse“ voraus eilt, auch bei seinem neuen Projekt im Residenztheater erwartet.
Das nicht obwohl, sondern weil es um die moralischen Kronjuwelen des christlich-jüdischen Abendlandes geht: Die zehn Gebote.
Aber seine weiträumig die existenziellen Fragen um die Freiheit des Menschen und seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft umkreisende Inszenierung ist oft seltsam betulich und nur in wenigen starken Momenten durchaus meditativ.
Der zwischen 1988 und 1989 erschienene zehnteilige Fernsehspielzyklus „Dekalog“ von Krzysztof Kieslowski inspirierte nicht nur den Spanier, sondern immer wieder auch andere Theatermacher.
So inszenierten andere den alttestamentarischen Stoff
In München inszenierte Johan Simons 2005 eine vierstündige Bühnenadaption des zehnstündigen TV-Ereignisses. Der damalige Kammerspiel-Intendant Frank Baumbauer widmete den zehn Geboten gar die ganze Spielzeit.
Vor Kurzem beschäftigte sich in Zürich – zum zweiten Mal nach seiner Inszenierung in Frankfurt 2013 – Christopher Rüping mit dem alttestamentarischen Stoff, und in der Nähe lief „Dekalog“ vor vier Jahren in Ingolstadt.
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Alexander Nerlich überzeugte Publikum wie Presse damit, die zehn Episoden fast naturalistisch dort anzusiedeln, wo sie schon Kieslowski und sein Drehbuchautor Kzrzystof Piesiewicz hingestellt hatten: Nach Polen mitten in die betontristen Plattenbausiedlungen während der bleiernen Zeit zur Sozialismus-Dämmerung.
Auf der Bühne herrscht oft lange Stille
Calixto Bieito bespielt nun die tiefe Schwärze des immer wieder überwältigend dimensionierten Bühnenraums des Residenztheaters mit einem altarähnlichen Aufbau von mobilen Wänden, die häufig Projektionsflächen sind.
Wunderschön, zum Beispiel, sind die Schwarzweißfotos von Sarah Derendinger, die das Darstellerteam in dem Isenheimer Altar nachgebauten Arrangements zeigt.
Weniger gottesfürchtig sind andererseits die klein gekachelten und unscharfen Aufnahmen aus Pornofilmen.
Bieito bleibt erstaunlich unverbindlich
Aber das verspielt sich, denn Bieito bleibt erstaunlich unverbindlich, wenn man bedenkt, dass es nicht nur um das Verhältnis zur Transzendenz geht, sondern auch um elementare und handfeste Dinge wie Ehebrechen, Verleumden, Stehlen oder Töten.
Was nach den 135 Minuten haften bleibt, ist Düsternis und eine große Stille. Es wird überwiegend nicht nur sehr leise gesprochen, sondern auch sehr, sehr langsam gespielt. Oft wird minutenlang geschwiegen.
30 starke Schauspieler
Um die große Konzentration zu halten, braucht es starke Schauspielerinnen und Schauspieler, und die rund 30, die mal in großen Tableaus, mal in kargen Dialogen auftreten, machen das sehr gut.
Sie sind Bieitos Vesicherung, sich nicht gegen ein Gebot der Theatergötter zu versündigen: „Du sollst nicht langweilen“.
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Das Premierenpublikum zeigte sich jedenfalls beeindruckt und jubelte vermutlich nicht zuletzt darüber, endlich wieder mal bei einem „richtigen“ Theaterevent live dabei gewesen zu sein.
Da macht es auch nichts, wenn das, was Calixto Bieito möglicherweise verstörend gemeint hat, zu gut abgehangen ist, um noch wirklich zu bewegen.
Residenztheater, 12., 26. Juni, 19.30 Uhr, 089 21851940
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