Pavel Kohout wird 95: Prags großer Chronist der Umbrüche

Prag – Der tschechische Dramatiker Pavel Kohout geht auf die hundert zu, bleibt aber ein scharfer Beobachter seiner Zeit. Jüngst meldete er sich in der Prager Zeitung „Lidove noviny“ mit Gedanken zu Russlands Feldzug gegen die Ukraine zu Wort. Das größte Opfer jedes Krieges sei die Masse einfacher Soldaten, schrieb der international bekannte Autor. Nicht Leidenschaft, sondern die Staatsgewalt führe sie auf das Schlachtfeld. „Ich stehe in diesem Krieg an der Seite der Ukraine, aber meine Seele weint für alle Unschuldigen“, betonte Kohout.

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Der Schriftsteller und Bühnenautor wird am 20. Juli 95 Jahre alt. Wie kaum ein anderer hat er die Irrungen und Wendungen des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa nicht nur protokolliert, sondern auch mitgestaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Schrecken der Nazi-Besatzung schrieb der junge Kohout Gedichte auf den Kommunismus und Sowjet-Diktator Josef Stalin. Sie fanden in der Tschechoslowakei großen Anklang, sollten ihm aber später peinlich sein.

Schnell zog es Kohout zum Theater. Das existenzielle Drama „So eine Liebe“ über eine Studentin, die sich nach einer Beziehung mit ihrem verheirateten Professor das Leben nimmt, wird bis heute aufgeführt. Der Trick dabei: In einem fiktiven Gerichtsverfahren müssen sich alle Beteiligten verantworten – ihre einzige Schuld ist die Liebe. Anerkennung fand Kohout mit der Dramatisierung von Prosa. In Hamburg brachte er 1967 den Schelmenroman „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ auf die Bühne.

Zur Prosa quasi gedrängt

Da zählte Kohout längst zu den führenden Vertretern der Reformbewegung „Prager Frühling“ in der Tschechslowakei, die sich für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz einsetzte. Doch am 21. August 1968 beendeten sowjetische Panzer jäh das Experiment. „Der schwerste Schock meines Lebens“, notierte Kohout. Mehr durch Zufall kam er dadurch zur Prosa. Der Verleger Jürgen Braunschweiger drängte ihn, über die dramatischen Entwicklungen zu schreiben. Mit seinem „Tagebuch eines Konterrevolutionärs“ schuf Kohout eine Mischung aus Memoiren und Roman.

Der überzeugte Genosse wandelte sich zum Dissidenten, der in der „Gemeinschaft der Ausgestoßenen“ um den Dramatiker und Bürgerrechtler Vaclav Havel auf Gleichgesinnte traf. Kohouts Bauhaus-Villa am Fluss Sazava wurde neben Havels Datsche in Hradecek zu einem wichtigen Treffpunkt der Regimegegner. Bei allem Ernst der Lage blieb dabei Zeit für den einen oder anderen Ulk.

Einmal kochte Havel für die Freunde einen Festschmaus aus dem Roman „Ich habe den englischen König bedient“ von Bohumil Hrabel nach. „Eine mächtige Gans füllte der Gastgeber mit einer dicken Ente, die er zuvor mit einem gefüllten Hühnchen ausgestopft hatte“, berichtet Kohout in seiner Autobiografie. Doch Havels Zwergschnauzer Aida und Kohouts Dackel Edison nutzten die Unaufmerksamkeit der Herrchen – und ließen es sich schmecken.

Namensgeber für „Charta 77“

Als die Gruppe eine Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen in der CSSR ausarbeitete, war es Kohout, der ihr den einprägsamen Namen Charta 77 gab. „Jedes Stück sollte einen ordentlichen Titel haben“, sagte er dazu später einmal. Heute gilt die Bürgerrechtsbewegung neben der Solidarnosc in Polen als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur demokratischen Wende im Ostblock von 1989.

Die Machthaber rächten sich und verweigerten Kohout und seiner Frau Jelena nach einem Arbeitsaufenthalt am Wiener Burgtheater 1979 die Rückkehr. Seine zurückgebliebenen Kinder aus früherer Ehe waren Repressalien ausgesetzt. Was das bedeutete, hat Kohouts Tochter Tereza Bouckova, die in die Fußstapfen ihres Vaters trat, in ihrem Roman „Indianerlauf“ beschrieben.

Anders als Vaclav Havel, der nach dem Fall des Kommunismus 1989 erst tschechoslowakischer und dann tschechischer Präsident wurde, ging Kohout nicht in die Politik. Dabei soll man ihm den Posten des Kulturministers angeboten haben. Unter dem Titel „Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel“ schrieb er seine Erinnerungen nieder. Er zählte zu den Mitbegründern des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache.

Und er fand Zeit, neue Werke zu schreiben und sich mit aktuellen Themen zu beschäftigen. Zu Beginn der Corona-Pandemie trug Kohout in Prag im Theater in den Weinbergen vor leeren Rängen seine Tragikomödie über eine „Hauptversammlung in der Zeit der Viren aus Fledermäusen“ vor. Nicht umsonst bezeichnet sich Pavel Kohout selbst gerne als „optimistischen Fatalisten“. © dpa

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