London – Früher galt er als Enfant terrible der britischen Literaturszene. Heute wird er als Elder Statesman geschätzt. Ian McEwan ist bekannt für seine raffinierte Darstellung von komplexen und oft dunklen menschlichen Emotionen. Viele seiner Werke gelten als Klassiker der Nachkriegsliteratur und sind mit Preisen überhäuft worden. Bis heute wurde ein Dutzend seiner Romanen verfilmt. Am 21. Juni wird der britische Schriftsteller 75 Jahre alt.
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McEwans jüngster Roman „Lessons“, ein rund 500 Seiten starker Wälzer, erschien im vergangenen Herbst und beginnt im Oktober 1962 während der Kubakrise. Der 14-jährige Roland hat ein sexuelles Verhältnis mit seiner Klavierlehrerin, das sein gesamtes Leben als Erwachsener nachhaltig und negativ beeinflussen wird. Während geschichtliche Ereignisse wie der Fall der Berliner Mauer an ihm vorbeiziehen, bleibt Roland passiv und fühlt sich machtlos, selbst als ihn seine Frau verlässt. McEwan hat ein Faible für solche Charaktere. Das Seelenleben des zeitgenössischen britischen Mittelklasse-Mannes ist eine seiner Spezialitäten.
17 Romane
In den vergangenen 45 Jahren hat McEwan 17 Romane veröffentlicht, darunter „Der Zementgarten“ (1978), „Der Trost von Fremden“ (1981) und „Abbitte“ (2001). Alle drei wurden später verfilmt. Außerdem schrieb der Brite zahlreiche Kurzgeschichten.
Ian McEwan wurde 1948 in Aldershot, Hampshire, geboren. Seine Kindheit war von der Militärkarriere seines Vaters geprägt. Die Familie zog häufig um – innerhalb Europas, nach Asien und Nordafrika. Dieser nomadische Lebensstil und der starke Kontrast zwischen dem reglementierten Leben einer Militärfamilie und den verschiedenen lebendigen Kulturen, die der junge Ian kennenlernte, prägten später viele seiner Werke.
Nach seinem Abschluss in englischer Literatur an der University of Sussex belegte er an der East Anglia University in Norwich den renommierten Studiengang „Kreatives Schreiben“, bei dem er von den Schriftstellern Malcolm Bradbury und Angus Wilson unterrichtet wurde.
In den 1970er Jahren veröffentlichte McEwan seine ersten Kurzgeschichten, die ihm den Spitznamen „Ian Macabre“ einbrachten. „Erste Liebe, letzte Riten“ oder „Zwischen den Laken“ erregten nämlich durch ihre dunklen und verstörenden Themen Aufsehen. „Der Zementgarten“ machte ihn 1978 als Schriftsteller bekannt. Der ebenfalls recht düstere Roman handelt von vier Waisenkindern, die nach dem Tod ihrer Mutter den Leichnam im Keller verstecken und versuchen, ihr Leben allein weiterzuleben.
Booker Prize
Für seinen Roman „Amsterdam“ (1998) erhielt McEwan den Booker Prize (damals noch Man Booker Prize). Mehrere seiner Romane, darunter „Liebeswahn“ (1997), „Abbitte“ (2001) und „Saturday“ (2005), wurden für die begehrte Auszeichnung nominiert. Neben vielen Preisen für seine Arbeit wurde er im Jahr 2000 von Queen Elizabeth II. zum Commander of the Order of British Empire (CBE) ernannt. Die „Times“ listete ihn als einen der „50 großartigsten Autoren seit 1945“.
McEwan gilt als Meister der Charakterisierung und schafft es, seinen Lesern auch Mitgefühl für fehlbare Figuren zu entlocken. So führt in „Abbitte“ Brionys Falschaussage zu einer Tragödie, die sie ihr Leben lang bereut. In „Amsterdam“ stellt Clive eine künstlerische Eingebung und beruflichen Termindruck über eine moralische Pflicht. McEwans Charaktere sind stets komplex und verkörpern sowohl die besten als auch die schlechtesten Eigenschaften der Menschheit.
Lob erhielt der Autor auch für seine Auseinandersetzung mit ethischen und wissenschaftlichen Fragen, etwa in „Saturday“, das am Tag der Proteste gegen den Irak-Krieg in London spielt und sich mit der nach den Anschlägen vom 11. September veränderten Welt befasst. In „Solar“ setzte sich der Autor mit dem Klimawandel auseinander. In seinem Roman „Maschinen wie ich“ nahm er bereits vor einigen Jahren die Künstliche Intelligenz unter die Lupe.
Theaterstücke und Drehbücher
Daneben schrieb Ian McEwan Kinderbücher, Theaterstücke und diverse Drehbücher. Seinen novellenhaften Roman „Am Strand“ (2007) adaptierte er rund zehn Jahre nach der Veröffentlichung selbst für eine Verfilmung mit Saoirse Ronan in der Hauptrolle. Die Kritiken für die Leinwand-Version, an der McEwan einiges geändert hatte, fielen allerdings gemischt aus. Auch für den Film „Kindeswohl“ mit Emma Thompson schrieb der Bestseller-Autor 2017 das Drehbuch auf Basis seines eigenen Romans.
Auf Deutsch erscheint als nächstes im August erstmals „Der Bauch des Wals“ (Diogenes), ein Buch mit zwei Essays von George Orwell (1903-1950) und Ian McEwan. Auf Orwells „Im Innern des Wals“ von 1940, in dem er für die Freiheit des Künstlers plädiert, sich von den Problemen der Welt abzuwenden, antwortete McEwan 2021 in seiner „Orwell Memorial Lecture“ und bezog dessen Überlegungen auf die Gegenwart.
Der Brite ist auch ein wachsamer Beobachter gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, insbesondere in seinem Heimatland, die er durchaus mit Humor kommentiert. In seiner satirischen Brexit-Fabel „Die Kakerlake“ kehrte er Kafkas „Die Verwandlung“ um. Statt Gregor Samsa, der eines Tages als Kakerlake aufwacht, findet sich in seinem Roman eine Kakerlake in der menschlichen Gestalt des britischen Premierministers in der Downing Street Nr. 10 wieder. Dass dieser Protagonist an zwei ehemalige Premiers erinnert, ist sicher kein Zufall. © dpa
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