Der Weg in die Einsamkeit

Am 27. April kommt endlich auch hierzulande der zweifach Oscar-prämierte Film "The Whale" von Darren Aronofsky (54) in die Kinos. Zu behaupten, dass allein Brendan Frasers (54) Darbietung Grund genug ist, ein Ticket zu lösen, liegt auf der Hand. Immerhin erhielt er dafür den Academy Award als "Bester Hauptdarsteller". Dem restlichen Cast des Dramas würde dies aber Unrecht tun. Auch ihnen wird dankenswerterweise die Gelegenheit gegeben, zu brillieren, "The Whale" umschifft so den Unkenruf einer One-Man-Show. Eines sollte aber auch klar sein: Wie bei seiner Hauptfigur ist auch beim Publikum zuweilen ein starker Magen gefragt – Taschentücher sowieso.

Ein Mann wird zum schwarzen Rechteck – darum geht es

Der Englischprofessor Charlie (Fraser) hat sich nach einem schweren Schicksalsschlag nicht nur vollständig aus der Gesellschaft zurückgezogen, er verfiel zudem einer zwanghaften Esssucht. Seine kleine Wohnung verlässt er seither nicht mehr, durch Online-Kurse mit ausgeschalteter Kamera hält er sich finanziell über Wasser. Sein einziger echter Kontakt zur Außenwelt ist seine gute Freundin Liz (Hong Chau, 43), die ihn widerwillig mit seinen Essenswünschen versorgt und ihn so gut es geht medizinisch betreut – denn eine Krankenversicherung hat Charlie nicht.

Sein letzter Wunsch vor seinem zwangsläufig drohenden Tod: Er will sich unbedingt noch mit seiner 17-jährigen Tochter Ellie (Sadie Sink, 21) versöhnen, deren Herz er vor vielen Jahren brach. Um sie zurück in sein Leben zu holen, bietet er an, ihr bei einem Aufsatz für die Schule zu helfen, den sie noch einmal neu schreiben muss. Widerwillig geht sie diesen Deal ein und taucht daraufhin immer tiefer in das traurige und dennoch irgendwie optimistische Dasein ihres Vaters ein.

Auf „The Wrestler“ folgt „The Whale“

Aronofsky hatte nach "The Wrestler" ganz offensichtlich noch Redebedarf. Wie schon im sehenswerten Drama mit Mickey Rourke (70) und Evan Rachel Wood (35) dreht sich "The Whale" um eine zutiefst zerrüttete Beziehung eines herzkranken, destruktiv lebenden Vaters zu seiner im Stich gelassenen Tochter. Bei "The Wrestler" ist es die Liebe zum Rampenlicht des Rings, bei "The Whale" jene zu einem anderen Mann, durch die eine Familie zerbricht. Im Gegensatz zum Film von 2008, für den Rourke als "Bester Hauptdarsteller" bei den Oscars nominiert war, basiert Aronofskys neues Werk aber auf einem gleichnamigen Theaterstück von Samuel D. Hunter.

Diesen Ursprung sieht man "The Whale" jederzeit an. Im Grunde trägt sich der gesamte Film als Kammerspiel im Apartment seiner Hauptfigur zu. Künstlich limitiert fühlt sich dieses Format jedoch zu keiner Zeit an, sondern fügt sich perfekt in die Handlung ein: Aus freien Stücken gepaart mit gesellschaftlicher Scham ist Charlie an seine vier Wände gebunden, nur noch eine Handvoll Menschen nehmen an seinem Leben teil. Seine Existenz ist buchstäblich zum Kammerspiel verkommen.

Und so lernt der Zuschauer Charlie zunächst nur als schwarzes Rechteck in einem Online-Gruppenchat kennen. Eine freundliche wie gebildete Stimme spricht aus dem Nirgendwo mit uns, belehrt uns über die Schönheit der Sprache. Umso gegensätzlicher inszeniert Aronofsky den ersten Blickkontakt mit Charlie: Zu Beginn des Films und im Beisein eines zufällig an seiner Tür stehenden Missionars muss er sich bewusst werden, an einem Punkt angelangt zu sein, an dem sogar Selbstbefriedigung ein ernstes medizinisches Risiko für ihn darstellt. "The Whale" startet unvermittelt mit einem von vielen kaum mitanzuschauenden Tiefpunkten seines Protagonisten.

Dennoch legt der reflexartig für alles um Entschuldigung bittende Charlie einen seltsamen Optimismus an den Tag. Seiner völlig zurecht wütenden Tochter attestiert er aufgrund ihres Feingeistes eine großartige Zukunft. Jeden Tag stellt er einem Vogel frisches (und gesundes) Essen auf die Fensterbank. Und mit seiner Freundin Liz macht er morbide Scherze, man könne ihn aufgrund seiner Körperfülle gar nicht mehr lebensbedrohlich mit einem Messer verletzten. Eigentlich, so scheint es, hat er noch Freude am Leben – warum also wirft er es so leichtfertig weg?

Rührend – aber nicht rührselig

Wie dessen Umfeld ertappt sich auch der Zuschauer dabei, Charlie wachrütteln zu wollen. Doch vergleichbar mit dem Drama "Leaving Las Vegas" (für das Nicolas Cage ebenfalls einen Oscar gewann), in dem statt Ess- eine Alkoholsucht im Zentrum steht, steigt das Publikum zu einem Zeitpunkt im Leben der Hauptfigur ein, an dem der "Point of no Return" bereits meilenweit überschritten scheint. "The Whale" demonstriert – ohne in die Rührseligkeits-Falle zu tappen -, wie egoistisch Selbstaufgabe ist. Als Zuschauer kann man den unbändigen Zorn von Tochter Ellie komplett nachvollziehen. Dasselbe gilt aber für die Art und Weise, in der gezeigt wird, wie ein Mensch in die Vereinsamung schlittern kann. Und für die Tatsache, dass dafür ein Zusammenspiel von diversen Faktoren vonnöten ist.

Apropos Zusammenspiel: "The Whale" ist trotz allem keine One-Man-Show geworden. "Stranger Things"-Star Sadie Sink und die für ihren Part mit einer Oscar-Nominierung bedachte Hong Chau sind wahrlich keine Statisten. Man könnte durchaus argumentieren, dass Fraser nur so Oscar-würdig aufspielen konnte, weil ihm immens talentierte Kolleginnen an die Seite gestellt worden sind. Ein Held vermag bekanntlich erst dank eines würdigen Gegenspielers so richtig zu brillieren. Bei einem Antihelden wie Charlie verhält es sich ähnlich, sehenswert miteinander gerungen wird hier jedoch auf emotionaler Ebene.

Unbedingt muss auch "Walking Dead"-Schurkin Samantha Morton (45) hervorgehoben werden, die Charlies Ex-Frau Mary spielt. Nur in einer Szene taucht sie auf, diese ist aber die bittersüßeste von allen. Sie zeigt, wie zwei Menschen, die sich nicht weiter voneinander hätten entfremden können, noch immer tiefsitzende Zuneigung füreinander empfinden. Erst recht im Dunstkreis einer drohenden Tragödie.

Gemeinsam einsam

Es wäre ein Leichtes gewesen, Charlies Ex als ein nach Rache lüsternes Biest zu inszenieren. Doch auch diesen Fehler vermeidet "The Whale". Vielmehr wird offenbart, dass jede der gezeigten Figuren ihr jeweiliges Kreuz zu schleppen hat: Mary trinkt, Liz hat ein beinahe toxisches Helfersyndrom entwickelt, Ellies Wut auf ihren Vater hat sie zur vermeintlichen Mobberin werden lassen. Eines eint sie alle, Charlie und selbst den eingangs erwähnten Kirchen-Missionar: Sie fühlen sich unendlich einsam.

Im Nachgang der Corona-Zeit, in der zwischenzeitlich so viele Menschen an die eigenen vier Wände gebunden waren und/oder Einsamkeit verspürten, entpuppt sich "The Whale" mehr denn je als Wirkungstreffer. Der Film demonstriert zugleich jene Ambivalenz, die auch während Corona zu beobachten gewesen ist: Als Gewohnheitstier kann nach Monaten der Isolation nicht mehr die Einsamkeit, sondern der Gang zurück in die Zivilisation die größte Herausforderung darstellen.

Fazit:

"The Whale" ist keine voyeuristische Darstellung eines gescheiterten Menschen geworden, über den sich das Publikum erhaben fühlt. Vielmehr zeigt der Film auf, wie selbst ein so positives Gefühl wie die Liebe negative Folgen für Beteiligte haben und sich zu einem Teufelskreis entwickeln kann. Brendan Frasers Oscar-Gewinn war überaus verdient, sollte aber auf keinen Fall die Leistung der anderen "The Whale"-Stars schmälern. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass die Zuschauer sowohl über das eigene sowie über das Leben der Liebsten reflektieren. Das fällt nicht leicht – das tun wichtige Dinge selten.

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