Da gab es diese beiden großen Metallkisten in ihrem Keller. Verschlossen, seit mehr als 40 Jahren. Irgendwann, hatte Michaela May, 69, sich gesagt, würde sie sie öffnen. Wenn es so weit wäre. Vor einem Jahr holte sie die Kisten hoch, und weil die Schlüssel fehlten, fuhr sie in München zum Schlosser und ließ sie aufbrechen. Zu Hause nahm sie die Notizen, Tagebücher, Zettel ihres Bruders Hans heraus und las und las. "Es war verwirrend, ohne Anfang und Ende", sagt sie.
Nur der engste Kreis wusste von ihren Verlusten
Im Alter von 34 Jahren nahm sich Hans Mittermayr 1977 das Leben. Drei Jahre zuvor wählte der zweitälteste Bruder, Karl, mit 28 den Freitod. Mays jüngere Schwester Gundi beendete 1982 ihr Leben, mit 22 Jahren. Man ist fassungslos, wenn man das hört. Nur der engste Kreis wusste davon. Die Eltern wollten es so. "Und ich habe das Geheimnis geschützt, um sie zu schützen", sagt Michaela May. Aber jetzt, kurz vor ihrem 70. Geburtstag am 18. März 2022, zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, die 97 wurde, ist sie so weit.
Wir treffen uns in München. Am Vorabend hat sie mit Krystian Martinek, 73, auf der Bühne der Komödie im "Bayerischen Hof" gestanden, in der Zwei-Personen-Drama-Komödie "Der Sittich". Als sie sich beim Schlussapplaus mit strahlendem Lachen verbeugt, spürt man, wie sehr das Publikum ihre fröhliche Seite liebt.
Autobiografie zu schreiben war wie eine Therapie
Es ist das erste Gespräch, das Michaela May mit einer Journalistin über ihre Autobiografie "Hinter dem Lächeln" führt, in der sie erstmals über die Suizide erzählt. Manchmal hält sie inne, sucht die passende Erinnerung. Manchmal kommen ihr die Tränen. "Das Buch war wie Therapie", sagt sie. "Jeden Dienstag saß ich mit meiner Co-Autorin zusammen, vier, fünf Stunden, wir haben geheult, gelacht, so wie wir jetzt."
Michaela May hat damals einfach entschieden weiterzuleben, möglichst in vollen Zügen, was sehr einfach klingt. Aber sie hatte das innere Rüstzeug dafür, die Widerstandskraft. "Daher kommt meine Energie: aus diesem unbedingten Willen zu leben." Sie hat sich damals in die Arbeit gestürzt, gedreht, Erfolge gefeiert, ist gereist, hat zwei Töchter geboren, die heute 40 und 34 sind, sich nach 24 Ehejahren noch mal krachend verliebt, neu geheiratet, Yoga für sich entdeckt, Freundinnen und Freunde gefunden, mit denen sie tief verbunden ist.
Wenn man sie früher fragte, ob sie Geschwister hat, hat sie das bejaht. Fragte jemand nach, hat sie gesagt, sie möchte nicht über sie sprechen. Aber die Kisten waren da, zogen von einer Wohnung mit in die nächste. "Ich wusste, ich muss irgendwann hineinschauen und herausfinden, ob ich drüber komme", sagt sie. Drüber, nicht drüber weg.
Sie alle haben eine glückliche Kindheit gehabt
Ihre Eltern wollten nie gefragt werden, warum es passiert ist, auch, weil sie die Antwort selbst nicht kannten. Michaela May kennt sie auch nicht. Oder sie kennt viele, bei jedem Geschwisterteil war es anders. Das naheliegende, eine vererbte Depression, trifft es nicht, in der Familie liegt die Schwermut nicht.
Die Mutter war fröhlich, kreativ, liebevoll, ließ den Küchentisch überquellen mit Farben, Pinseln und Bastelsachen. Der Vater ließ sich von dieser Leichtigkeit mitziehen, war aber strenger, sehr gläubig, einer, der gern den Ton angab. Er war Berufsschullehrer, später Direktor der Münchner Berufsschulen, die Mutter Hausfrau. Im Sommer fuhr die Familie aufs Land, an den Ammersee. Sonntags nach der Kirche musizierten sie. Karl spielte Geige, Hans Klavier, Michaela Altflöte, Gundi war noch zu klein. "Glücklich war die Kindheit für uns alle", sagt Michaela May.
Michaela May war bereits prominent, als ihre Geschwister verstarben
Mit 15 begann Hans, der Älteste, sich gegen den Vater und dessen strenge Regeln aufzulehnen. Nachts horchte er ins Weltall, mit Apparaten, die er selbst baute. Karl, drei Jahre jünger, war introvertiert, ein Künstlertyp, Maler, in der Schule ein Außenseiter, er zog sich immer weiter in sich zurück. Mit 18 setzte er sich auf eine Parkbank, um sich "einschneien zu lassen", wie Michaela May es in ihrem Buch nennt. Ein Passant rettete ihn. Sechs Jahre war er danach in der Psychiatrie, wurde zeitweilig mit Elektroschocks traktiert. Karl ist zu schnell gewachsen, sagten die Eltern, und seine Nerven nicht mit. Nach der Klinik machte er eine Ausbildung zum Gärtner, heiratete. Im Frühjahr 1974 verschwand er auf dem Weg zur Stadtgärtnerei. Monate später wurde er gefunden, auf einer Christbaumplantage auf dem Land, Alkohol und Medikamente im Blut.
Schon damals war Michaela May prominent. Sie war ein Kinderstar gewesen, noch unter ihrem echten Namen Gertraud Mittermayr, Traudi. Das Unbeschwerte blieb, bis sie Teenager wurde und begann, mit dem Busen, der Nase, den Locken zu hadern, dann mit den Rollen. Nachdem sie in eine Art Erotikfilm geraten war, machte sie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin, um eine Alternative zu haben. 1974 castete Helmut Dietl, †70, sie für die "Münchner Geschichten", die Serie rund um den Lebenskünstler Tscharlie. Michaela May spielte dessen Freundin. Die Rolle half ihr, zum Schauspielberuf zurückzufinden.
Sie war mitten im Dreh, als Karl gefunden wurde. Sie war schockiert, tieftraurig, aber sie drehte sofort weiter, ihre Agentur sorgte dafür. "Für mich war das ein Segen. Die Arbeit hat mich in eine ganz andere Welt hineingezogen, weg von Tod und Lebenszweifel."
Ihre Geschwister haben keinen Gegenpol gehabt
Hans, damals Lehrer für gehörlose Kinder in München, hatte diesen Gegenpol nicht. Der Tod seines Bruders veränderte ihn vollkommen, er wurde grüblerisch, selbstanklagend, litt unter Wahnvorstellungen, schrieb manisch, über das Dunkle und die Last, die zu groß sei – das liest Michaela May später in seinen Notizen. Gesprochen habe er nicht mehr viel in der Zeit. "Wenn ich ihn fragte, wie es ihm geht, riss ich ihn aus einer anderen Welt."
Sein Suizid trifft sie, wie sie nun schreibt, wie eine "Abrissbirne" und "löst unglaubliche Schuldgefühle aus, etwas übersehen zu haben". Als sie seine Wohnung auflöst und Gundi sie an einem Tag begleitet, tritt diese ans Fenster und starrt lange hinaus. Michaela May kommen die Tränen, als sie davon erzählt. "Das war sicher die Initialzündung für meine Schwester." Gundi lebt danach noch fünf Jahre, sie starb dann als Folge ihrer Sucht und Depressionen. Helfen lassen wollte sie sich nicht. Bei ihrem Begräbnis war der Vater mit ein paar ihrer Freunde allein am Grab. Michaela May war damals schwanger und hatte nicht die Kraft dazu.
Das ist ihr Gepäck
Ein Gedicht ihrer Schwester besitzt sie noch, drei Zeilen: "Das Letzte Auflodern gibt den Weg frei für die Finsternis, die sich der Geborgenheit für immer entzieht." Außerdem hat sie ein von Karl gemaltes Landschaftsbild und die Fotos der Geschwister, die im Schlafzimmer der Eltern hingen, sie trägt sie in einem kleinen Mäppchen bei sich. Und sie hat die Aufzeichnungen von Hans. Das ist ihr Gepäck.
"Meine Eltern haben sich danach an sich festgehalten", sagt sie. Sie wurden noch gläubiger, sagten sich, wir sehen sie wieder, in einem anderen Leben. Irgendwann stürzten sie sich wieder in ihre Hobbys, machten Fahrradtouren. Für die Eltern hat die Verdrängung funktioniert.
Wie es nun sein wird, wenn die Öffentlichkeit Bescheid weiß?
Natürlich hat sich Michaela May Gedanken gemacht. Sie hat mit ihrer Kollegin Adele Neuhauser, 63, darüber gesprochen, die in ihrer Jugend mehrfach versuchte, sich das Leben zu nehmen und darüber geschrieben hat. "Du glaubst gar nicht, wie vielen Menschen es geholfen hat zu sehen, dass man auch darüber hinwegkommen kann", hat Neuhauser gesagt. Und ihr geraten: Mach das.
Es wird ein Bruch sein, auch mit ihrem Image: "Man hat immer gesagt: Mei, die May, des is so a nette, brave, easy-going Person. Außer vielleicht der Scheidung, dass sie einen zweiten Mann hat. Ich habe das nie korrigiert, weil auch die Rollenangebote dazu fehlten. Ich war die Gesunde, die alles zusammenhält. So werde ich zu 75 Prozent besetzt. Die anderen 25 sind edle Perlen für mich, 'Polizeiruf', die 'Protokolle des Bösen', wo ich eine Mörderin spiele, meine Versuche an Off-Off-Theatern. Ich wollte damit sagen: Ich bin auch noch ein anderer Mensch."
Die Kisten von Hans hat sie inzwischen entsorgt
Sie bewahrt nur eine Tasche mit den wichtigsten Schriften auf. "Es berührt mich immer noch", sagt sie, "aber ich kann jetzt sagen: Das bin ich. Es war wohl schwerer, es geheim zu halten, als es jetzt wegziehen zu lassen." Auch an diesem Abend steht sie wieder auf der Bühne im "Bayerischen Hof", das Stück läuft noch bis zum 6. März 2022. Am Ende strahlt sie das Publikum an, und die Menschen lieben sie, für diesen warmen Michaela-May-Moment und dieses Lächeln.
Information zu Hilfsangeboten
Sie haben suizidale Gedanken? Die Telefonseelsorge bietet Hilfe an. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/1110111 und 0800/1110222 erreichbar. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der „Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention“.
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