Eine Kritikvon Iris Alanyali Diese Kritik stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.
Was für ein alberner Titel. „Die Kalten und die Toten“, das klingt wie eine geschmacklose Krimi-Parodie. Oder wie eine Münsteraner „Tatort“-Folge: Der zynische Pathologe Boerne untersucht gerade eine Leiche, da platzt der flapsige Kommissar Thiel herein und ruft: „Ach, da sind sie ja, die Kalten und die Toten!“
Aber das ist auch das einzig Alberne am neuen „Tatort“ aus Berlin. Denn hier ist der Titel wortwörtlich zu nehmen, „Die Kalten und die Toten“ ist ein beklemmendes psychologisches Drama. Es ist Winter in Berlin, und es ist Winter in den Seelen.
Dabei fängt es heiß an: Sophia Bader ist mal wieder mit einer Dating-App im nächtlichen Berlin unterwegs. Sie trifft sich regelmäßig mit Männern, Frauen oder Paaren zu unverbindlichen Eskapaden. Die Medizinstudentin ist hübsch und unbeschwert und hat keine Schwierigkeiten, passende Partner zu finden. In dieser Nacht sind es Julia (Milena Kaltenbach) und Dennis (Vito Sack).
Aber am nächsten Morgen müssen die Kommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) den Mord an Sophia klären. Ihre Leiche wurde ins Gebüsch geschleppt, das Gesicht ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ganz in der Nähe von Dennis‘ Wohnung.
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„Tatort: Die Kalten und die Toten“: Eine familiäre Freak-Show Er und Julia melden sich hilfsbereit im Kommissariat: Ja, berichten die netten jungen Leute, sie waren in der Nacht mit Sophia zusammen. Erst Julia und Sophia, und dann wollte er auch mal, sagt Dennis, ist doch nichts dabei, hat Spaß gemacht. Dann sei Sophia wieder gegangen.
Der Dennis, das wissen die Zuschauer da bereits, ist ein ganz Lieber. Er verbringt trotz eigener Wohnung viel Zeit bei Mama und Papa. Entspannt sitzt er auf dem Sofa und spielt ein Videospiel. Mutti soll mal bitte in seiner Bude putzen gehen, sagt er, als Streifenpolizistin Doris Ziegler von der Arbeit nach Hause kommt. Da sei viel Blut. Mutti bekommt einen Kuss von ihrem blond gelockten Engel. Dann hat Dennis Hunger. „Habt ihr Cornflakes?“
Doris Ziegler trägt ein Kinderfoto von ihrem süßen Jungen im Portemonnaie. Doris und Dennis, zwischen die beiden passt kein Blatt Papier. Schon gar nicht die dicke Akte auf dem Polizeirevier, die von Dennis‘ vielseitigen Interessen zeugt: Brandstiftung, Körperverletzung, Vergewaltigung, gleich mehrfach. Doris hat dafür gesorgt, dass ihrem Dennis keiner etwas tut, alle Verfahren wurden eingestellt. Ist doch nichts dabei, hat Spaß gemacht.
Doris Ziegler ist eben auch eine ganz Liebe. Das einzige, was ihr eine Regung ins Gesicht zaubert (außer ein Lächeln von ihrem Dennis natürlich), ist, wenn niemand einsehen will, wie ungerecht sie als liebende Mutter behandelt wird. Dann ist Doris (Jule Böwe) schwer beleidigt.
Und der Vater? Claus Ziegler (Andreas Döhler) hat die Welt im Griff. Er ist entweder im Tauchklub oder bei seiner Geliebten. Sie führen eine offene Ehe, wird der selbstbewusste Sicherheitsfachmann den Ermittlern später erklären, solange er immer wieder nach Hause komme, habe seine Frau nichts dagegen. Die reinste Freak-Familie präsentiert sich den ungläubigen Kommissaren.
Udo Lindenberg spielt im Weihnachts-"Tatort" mit Das Aufdecken von Lebenslügen Und dann sind da noch die Eltern der toten Sophie. Nein, sagen die, die Tote sei nicht ihre Tochter. Unmöglich. DNA-Abgleich? Nicht zuverlässig, das sei ja bekannt. Eine Dating-App? Was soll das denn bitteschön sein? Ihr Fienchen hat gar keine Zeit für Freunde, sie hat ihr Medizinstudium.
Mutter Marianne (Andreja Schneider) lächelt. Lächelt. Und lächelt. Bis sich das Lächeln ins Gesicht gefräst hat. Und Vater Helmut (Rainer Reiners) guckt einfach nur. Woran man keinen Anteil nimmt, das ist auch nicht geschehen.
So viel Verdrängung. So viel Ignoranz. So viel Kälte. Kann Nina Rubin nicht ertragen. Der emotionalen Kommissarin platzt der Kragen. Sie setzt zum Gegenschlag an. Ihre Ermittlungen setzt sie als personifizierter Psychoterror fort: finster entschlossen, Masken vom Gesicht zu reißen, Fakten unter Nasen zu reiben. Hier geht es nicht mehr nur ums Fällelösen, es geht um das Aufdecken von Lebenslügen. Mit Erfolg. Und fatalen Folgen.
„Tatort“ aus Berlin: Ein durch und durch unterkühltes Schauspiel Im ungeheizten Gewächshaus der Baders, die ein Gartencenter betreiben, steht eine schwarze Schneiderpuppe mit einem schneeweißen Brautkleid. Für eine anstehende Hochzeit in der Familie will Marianne Bader es umnähen. Sie wartet auf Sophie, die das Kleid stellvertretend anprobieren sollte.
Egal, wie oft die Kommissare vorbeikommen, erklären und beteuern: Die Puppe steht unverrückt inmitten des Immergrüns. Ein strahlend weißer Geist in Wartestellung.
Es sind Bilder wie dieses, die aus „Die Kalten und die Toten“ ein so beklemmendes Psychogramm machen. Und es sind allesamt wunderbar minimalistisch agierende Schauspieler, mit denen Regisseur Torsten C. Fischer die dicht erzählte Geschichte von Drehbuchautor Markus Busch angemessen kühl inszenieren kann. So kühl, dass verschneite Baumzweige und zugefrorene Seen fast schon wärmend wirken: Beweise von Normalität inmitten dieses Frösteln machenden Irrsinns.
Nina Kunzendorf wird 50.: Diese Stars waren schon "Tatort"-Kommissare Quelle: Lesen Sie Vollen Artikel