t-online hat offene Ohren für die wichtigsten Alben der Woche und gibt Ihnen Musiktipps. Diesmal mit einer ungewohnt provokativen Beatrice Egli, Marianne Faithfull und Deafheaven.
Wenn Sie mal wieder richtig Lust auf neue Sounds haben, Ihnen aber die Zeit fehlt, sich durch die Veröffentlichungen der Woche zu hören, stimmt t-online Sie mit der wöchentlichen Rubrik „Schon gehört?“ ein.
Beatrice Egli – Alles was du brauchst
Was wäre es für ein Schlagerjahr ohne Beatrice Egli? Ja, Vanessa Mai hat schon ein Album veröffentlicht 2021. Helene Fischer wird im Oktober kommen. Und genau dazwischen kommt die DSDS-Siegerin mit ihrer neuen Songzusammenstellung. Doch die, die immer lacht – Beatrice, nicht Kerstin Ott – schlägt dieses Mal ganz andere Töne an.
Da geht es um Hass im Internet und sogar um häusliche Gewalt. Keine Themen, die in der Schönwetterwelt Schlager passieren. „Yannik wohnt hier schon seit er denken kann. Und seit letzter Woche geht er in die 2. Klasse. Er geht so gerne dorthin, dort hört er nicht, wenn Mama weint. Aber er hört es nachts.“ oder „Er hat ihn [Papa] sehr lieb, außer, wenn Papa wütend ist und das ist er in der letzten Zeit oft.“ Puh. Das haben wir bei Helene nicht gehört, oder? „Er möchte nur der kleine Junge sein. Mit seinen Tränen ist er so oft allein […] Er fühlt sich nur geliebt, wenn er die Augen schließt und aus dem Leben flieht“, heißt es weiter in der Ballade. Die 33-Jährige nimmt die ungewohnte Position der Storytellerin ein und macht damit ein intimes und oft verschwiegenes Thema einem Millionenpublikum publik.
„Du bist dumm wie Brot, ‚Frau Hässlich‘ solltest du heißen“ singt sie in „Ganz egal“. Und da schlackert man doch mit den hochroten Ohren. Ist das Beatrice oder hat man zwischendurch einem alten Hit von Sabrina Setlur gewechselt? Nein, das ist die DSDS-Siegerin, die sich hier auch mal – ich passe die Wortwahl an – auskotzt über das, was sie im Internet tagtäglich lesen muss. Kein Liebeskummer, keine Schnulze, kein Lied über Freundschaft und trotzdem schafft es Beatrice hier positiv zu bleiben. „Ganz egal, wer dich gerade disst, komm, steht auf, geh raus und zeig dich“ singt sie in dieser Hymne zur Selbstliebe.
Und wenn Sie sich jetzt denken: „Aber die ist doch sonst immer so lieb und fröhlich beim Silbereisen auf der Bühne“. Ja, das ist sie auf den restlichen Songs auch. Die in Spanien produzierten Nummern klingen sonst sehr leicht, gehen gut ins Bein, laden eigentlich dazu ein im „ZDF-Fernsehgarten“ vom Tisch aufzuspringen und neben Andrea Kiewel hemmungslos zu tanzen. Auf „Alles was du brauchst“ paart sich also Sozialkritik und Diskothek.
Marianne Faithfull – The Montreux Years
Das weltberühmte Jazzfestival in Montreux gilt als Ritterschlag einer jeden Musikerkarriere. Marianne Faithfull zählt da fast schon zu den Stammgästen, durfte sie doch bisher fünf Auftritte dort absolvieren. Das Best-Of dieser Gigs wird nun auf Doppel-LP und CD gebannt.
Die Songauswahl ist gut. Es beginnt mit einer schönen Coverversion von „Madame George“, welches im Original von Van Morrison stammt. Auch „Working Class Hero“, die Hymne von Ex-Beatle John Lennon, erfährt hier eine mehr als interessante Neuinterpretation von der Grande Dame. Aber auch eigene Songs wie „Broken English“ oder „Guilt“ werden hier in schön poliertem Sound für die Ewigkeit festgehalten.
„The Montreux Years“ ist übrigens eine neue Livereihe der BMG. Muddy Waters veröffentlicht heute ebenfalls ein Album. Weitere Künstler und Gigs sollen folgen. Über die Jahre hat sich das Jazzfestival überigens geöffnet. So haben auch Bands wie Korn, Deep Purple, Alice Cooper oder Simply Red dort gespielt.
Turnstile – Glow On
In meinen späten Teenie-Jahren und frühen 20ern habe ich unheimlich gerne Hardcore gehört. Jetzt nicht unbedingt Sick Of It All oder Madball. Eher so etwas düsteres Zeug wie American Nightmare, Dead Swans, Gallows oder Modern Life Is War. Einer der letzten Hypes, die ich in dem Genre noch aktiv mitbekommen habe, bevor ich mich wieder anderen Spielarten zugewendet habe, war Turnstile. Irgendwo zwischen Hardcore, 90er Alternative und Morrissey anzusiedeln, haben die Amerikaner einen ganz eigenen Mix präsentiert.
Und mit „Glow On“ wird das noch weirder. Schon das eher elektronische Intro von „Mystery“ lässt aufhorchen, bevor dann wieder rhythmisch scharf akzentuiertes Riffing einsetzt. „Blackout“ etwa macht mich mit seinen E-Drum-Effekten völlig fertig. „Holiday“, was irgendwo zwischen alten Black Flag und „Your Arsenal“-Morrissey anzusiedeln wäre, hat ebenfalls absolut unerwartete Soundeffekte. Zudem besticht „Glow On“ mit echt guten Songs. „T.L.C. (Turnstile Love Connection)“, „Dance-Off“ oder „Underwater Boi“ gehören mit zum aufregendsten, was dieses Jahr im harten Sektor erschienen sind. Großartig.
Deafheaven – Infinite Grantine
Eigentlich kam dieses Album schon letzte Woche, aber ich habe mehrere Tage gebraucht, um das Gehörte zu verarbeiten. Die Aufarbeitung ist da auch noch nicht final abgeschlossen. Bekannt wurde diese Band mit ihrem Hipster-gerechten Black Metal und dem modernen Klassiker „Sunbather“. Statt nihilistisch-kaltem Gekloppe konnte man durch Post-Rock- und Shoegaze-Referenzen einen ganz eigenen Spin für das teilweise festgefahrene Gerne rauskitzeln. Der Nachfolger „New Bermuda“ konnte in diesem Fahrwasser auch punkten. Doch schon die letzte LP „Ordinary Corrupt Human Love“ hat einige überfordert, öffnete man sich doch sogar ruhigen Songs und Klargesang. Metal war das trotzdem noch.
Und jetzt der Hammer: „Infinite Granite“ hat mit all dem gar nix mehr zu tun. Geknüppelt wird nur noch in den letzten 2 der insgesamt 54 Minuten. Und jetzt wollen Sie bestimmt wissen „Was machen die denn dann, bitteschön?!“ Nun, eben das musste ich ja verarbeiten. Irgendwo zwischen Post-Rock, 90er Smashing Pumpkins, Cocteau Twins und „Disintegration“-The-Cure sind die neuen neun Nummern anzusiedeln. Gekreischt wird bis auf das Finale eigentlich so gut wie gar nicht. Stattdessen kann Sänger George Clarke jetzt halbwegs singen. Etwas hoch und etwas eigen klingt das.
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Ist man da enttäuscht? Vielleicht anfänglich, wenn man gerne Scheuklappen trägt. Die Tränen kamen mir persönlich zwar nicht, aber wehleidig war ich die ersten zwei, drei Durchläufe dennoch. Im Grunde ist „Infinite Granite“ eines der mutigsten Alben des Jahres. Einfach mal das Erfolgsrezept komplett über den Haufen geworfen und mal das gemacht, worauf man Lust hat. Und das funktioniert und hört man sich gerne an.
Alle Alben sind ab jetzt digital und physisch erhältlich. Wir hören uns wieder!
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