ESC 2021: Italien gewinnt und der Wettbewerb auch – an Qualität

Glamrock Hallelujah. Die Menschen in Europa haben sich beim Eurovision Song Contest für Italien entschieden. In einem starken Wettbewerb in Rotterdam setzte sich die Band Måneskin dank des Zuschauer-Votings mit ihrer Rocknummer „Zitti e buoni“ gegen die Konkurrenz durch. Deutschlands Kandidat Jendrik kann sich bei den Jurys aus Österreich und Rumänien bedanken, dass er nicht völlig leer ausging.

„Open Up“, „Öffne dich“. Man hatte sich das Motto des diesjährigen Eurovision Song Contests ausgesucht, um in einer Zeit der Polarisierung, in der es vielen schwerfällt, andere Meinungen zu respektieren oder überhaupt erst anzuhören, ein Zeichen für Offenheit, Toleranz und Vielfalt zu setzen. Werte, für die der ESC ohnehin steht.

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Doch selbstverständlich haben sich weder Polarisierung noch Intoleranz in einem Jahr Pandemie in Luft aufgelöst, daher wundert es nicht, dass man nach der Absage des ESC 2020 das Motto einfach noch einmal für dieses Jahr genommen hat. Und so hätte es auch nach all den Lockdown-Wochen und der langsam aufkeimenden Hoffnung auf ein Ende der Pandemie passender nicht sein können.

Die Fakten:

Um 21:11 Uhr steht Elena Tsagrinou am Samstagabend für Zypern auf der Bühne im Rotterdamer Ahoy und eröffnet den 65. Eurovision Song Contest. Rund 200 Millionen Zuschauer dürften ihr dabei zu Hause zugesehen haben und 3.500 in der Halle. Beinahe wären es 3.501 gewesen, doch der Vorjahressieger Duncan Laurence fing sich wenige Tage vor dem Finale eine Corona-Infektion ein und konnte deshalb nicht live dabei sein.

Dass überhaupt Saalpublikum in der Ahoy-Arena zugelassen wurde, lag daran, dass die Show als Modellprojekt wissenschaftlich begleitet wurde. Alle Zuschauer sind getestet, die teilnehmenden Künstler auch, die ohnehin nur zwischen Hotel und Halle pendeln dürfen, wie Kommentator Peter Urban erklärt. Der 73-Jährige kommentiert auch diesmal wieder den Song Contest fürs Erste, in der Halle selbst moderieren Chantal Janzen, Jan Smit, Edsilia Rombley und Nikkie de Jager.

Die Auftritte:

Schon lange war der Eurovision Song Contest nicht mehr so vielfältig, und zwar sowohl visuell als auch musikalisch. Natürlich gab es auch diesmal wieder viel folkloristisch angehauchtes Viervierteltakt-Elektro-Gestampfe, pathetische Balladen und massentauglichen Synthie-Pop, aber eben auch viel dazwischen.

Frankreich brachte das Chanson zurück auf die ESC-Bühne, die Schweiz versuchte es mit einer Mischung aus Minimalismus und großer Geste, Finnland und Italien zeigten, dass der ESC auch sehr gut mit E-Gitarren funktioniert, Litauen brachte mit „Discotheque“ die Leute zum Tanzen, Island schickte eine Truppe mit neridgen Bad-Taste-Pullis und Elektrobeats und Norwegen sorgte mit TIX als von dunklen Dämonen angeketteter Engel für den ESC-typischen Ein-bisschen-drüber-Moment.

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Die Show:

Gab es auch, coronabedingt musste man sich aber mit viel Hin-und-her-Geschalte und ein paar Einspielern behelfen. Trotzdem waren einige nette Einfälle bei den Show-Elementen dabei, zum Beispiel ein Hausdach-Konzert ehemaliger ESC-Gewinner oder eine Art ESC-Carpool-Karaoke.

Der deutsche Auftritt:

Ein rosafarbenes Kurzarm-Sakko, eine Dame im Handkostüm, eine Ukulele, eine Stepp-Einlage, ein bunter Pop-Art-Hintergrund, ein bisschen Rock ’n‘ Roll, eine eingängige Melodie – es schien, als hätte man Jendrik Sigwart vor der Show gefragt: „Was möchtest du bei deinem Auftritt alles zeigen?“ und er hätte geantwortet: „Na alles!“ Sein Song „I Don’t Feel Hate“ war mit Sicherheit kein schlechter und sein Auftritt auch nicht, im Gegenteil.

Das meinte auch Kommentator Peter Urban, der einen „super Auftritt“ gesehen hatte, den er „bunt, schrill und sympathisch“ fand. Den Geschmack von Jury und Publikum hat er trotzdem nicht getroffen und so suchte Urban nach Erklärungen, als die Messe gelesen war: „Kann sein, dass der Song nicht richtig vom Publikum verstanden wurde. Weil eben so viel drin steckte.“ Man wird es nie erfahren.

Die Sieger des Abends:

Dass aus Finnland beim ESC gerne einmal härtere Töne kommen, ist spätestens seit Lordis „Hardrock Hallelujah“ bekannt. Dass solche Gitarrenriffs noch dazu das Zeug zum Sieg haben, auch. Finnland hatte mit Blind Channel zwar wieder eine Rock-Band im Rennen, durchgesetzt haben sich aber diesmal Måneskin, die in 1970er-Glam-Rock-Kostümen zeigten, dass der ESC immer noch rocken kann.

Dabei sah es lange Zeit gar nicht nach einem Sieg der Italiener aus, was am Abstimmungssystem des ESC liegt. Nach der Jury-Wertung lagen nämlich die Beiträge aus Frankreich, der Schweiz und Malta ganz vorne. Doch weil die Jury-Stimmen nur 15 Prozent des Gesamtvotings ausmachen, wirbelten die Stimmen der Zuschauer noch einmal alles durcheinander. Zwischendurch lagen auch einmal die Ukraine und Island auf Platz eins. Am Ende katapultierte das Publikum aber Italien an die Spitze.

Auch wenn es schlussendlich knapp war, können sich auch Frankreich und die Schweiz als Sieger fühlen. Denn wie Frankreichs Teilnehmerin Barbara Pravi fesstellte, lagen mit ihrem eigenen Beitrag „Voilà“ und dem Lied „Tout l’univers“ des Schweizer Vertreters Gjon’s Tears zwei französischsprachige Beiträge auf den Plätzen zwei und drei.

Die Verlierer des Abends:

Da gab es gleich mehrere, allen voran James Newman aus Großbritannien. Sein Lied „Embers“ kam weder bei der Jury noch bei den Menschen in Europa gut an und so war der britische Singer-Songwriter der einzige Teilnehmer, der zweimal null Punkte bekam. Newman nahm das Punkte-Waterloo aber erst einmal mit Galgenhumor und stieß nach der Verkündung mit den anderen an.

Da kann man nur hoffen, dass er auch ein Gläschen für Jendrik Sigwart übrig hatte, denn Deutschland schlug sich nur unwesentlich besser. Gerade einmal zwei Punkte kamen von der Jury aus Österreich, einer von der Jury aus Rumänien, vom ESC-Publikum gab’s gar nichts außer den vorletzten Platz. Ebenfalls null Punkte von den Zuschauern bekamen noch Spanien und die Niederlande, landeten aber mit sechs beziehungsweise elf Punkten aus der Jury-Wertung noch auf den Plätzen 24 und 23.

Etwas Tränen in den Augen gehabt haben dürfte auch Maltas Vertreterin Destiny. Nach der Jury-Wertung lag die Sängerin noch auf einem verheißungsvollen dritten Platz, ehe das europäische Publikum zuschlug. Nur 47 Punkte gab es von den Zuschauern. Zum Vergleich: Sieger Italien bekam 318 Punkte. So landete Malta am Ende nur auf Platz sieben.

Das Fazit:

Der Eurovision Song Contest in Rotterdam war ein guter. Zum einen, weil er überhaupt stattgefunden hat und so die Hoffnung nährte, dass bald zwar nicht alles gut, aber immerhin ein bisschen besser wird. Gut war er aber vor allem, weil er musikalisch hochwertiger und vielfältiger war, als in den Jahren zuvor, als man sich oft nur zwischen Halligalli und Kirmes-Beats entscheiden konnte.

Der Geschmack hat sich also offenbar genauso geändert wie die Ansprüche an die Auftritte, sodass es nur folgerichtig erscheint, dass sich das Publikum nach Jahren des Einheits-Eurodance-Trashs für Gitarren-Handwerkskunst aus Italien entschieden hat. Oder wie es der Sänger von Måneskin auf den Punkt brachte: „Rock ’n‘ Roll never dies.“

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