Forscher begleiteten die Obdachlose nach Erhalt von 5.000 Dollar
Forscher:innen in Vancouver haben in einer Studie 7500 Kanadische Dollar an 50 Menschen ohne festen Wohnsitz ausgezahlt. Ein Jahr später zeigt sich: Die meisten sind mit dem Geld sehr vernünftig umgegangen.
Studie der Stiftung "Foundations for Social Change" startete 2018
„Zuerst dachte ich, das ist zu schön, um wahr zu sein“, sagte Ray dem US-Sender Vox. Der 55-jährige Kanadier lebte in einer Obdachlosen-Unterkunft in Vancouver als er Teil des „New Leaf Projects“ wird. Der Ansatz der Studie, die von der Stiftung „Foundations for Social Change“ zusammen mit der University of British Columbia durchgeführt wurde, ist simpel: In der Region um Vancouver wurden 50 Personen ausgewählt, die in den letzten zwei Jahren obdachlos geworden sind.
Im Frühjahr 2018 wurde ihnen jeweils eine Pauschale von 7500 Kanadischen Dollar (rund 5000 Euro) gegeben – mit der Ansage, mit dem Geld machen zu können, was immer sie wollen. „Ich bin mit einem Projektmitarbeiter zur Bank gegangen und wir haben ein Konto für mich eröffnet“, erzählte Ray. „Selbst nachdem das Geld da drauf war, habe ich eine Woche gebraucht, bis ich es glauben konnte.“
Entgegen den Erwartungen: Obdachlose investierten ihr Geld sinnvoll
Im Laufe des nächsten Jahres begleiteten die Forscher:innen die 50 Bedürftigen und erkundigten sich regelmäßig, wie es ihnen geht und wofür sie das Geld ausgeben. Ihre Schilderungen wurden mit denen einer Kontrollgruppe verglichen: 65 Obdachlose, die kein Geld bekommen hatten. Sowohl die Geldempfänger:innen als auch diejenigen in der Kontrollgruppe erhielten Zugang zu Workshops und Coaching, die sich auf die Entwicklung von Berufskompetenzen und Lebensplänen konzentrierten.
Die Ergebnisse fielen durchweg positiv aus: Die Personen, die eine Direktzahlung bekommen hatten, fanden schneller wieder eine Wohnungen und sparten genug Geld, um über das Jahr für ihre finanzielle Sicherheit zu sorgen. Sie gaben im Durchschnitt 39 Prozent weniger Geld für Drogen, Tabak und Alkohol aus und stattdessen mehr für Lebensmittel, Kleidung und Miete.
„Ganz im Gegensatz zu den schädlichen Stereotypen haben wir gesehen, dass die Menschen kluge finanzielle Entscheidungen getroffen haben“, sagte Claire Williams, CEO von „Foundations for Social Change“, zu Vox. Die Stichprobe der Studie sei zwar klein, widerlege aber den Irrglauben, dass Menschen nur selbst dafür verantwortlich seien, auf der Straße zu landen, weil sie schlecht rationale Entscheidungen treffen würden. Zudem zeigten die Ergebnisse, dass Bedürftige, die Geld bekommen, dieses nicht leichtfertig für Suchtmittel ausgeben. Im Gegenteil: Der Konsum von Drogen und Alkohol wurde entweder geringer oder blieb unverändert.
Laut „Foundations for Social Change“ haben die Direktzahlungen an Obdachlose in Vancouver der breiten Gesellschaft sogar Geld gespart. Durch die schnellere Unterbringung von 50 Personen konnte das Sozialsystem der Region im Laufe des Jahres 8100 Dollar pro Person einsparen. Insgesamt wurde eine Summe von 405.000 Dollar eingespart, was deutlich über dem Wert der Geldzahlungen an die Bedürftigen liegt. „Die Leute denken, dass der Status quo billig ist, aber tatsächlich ist er unglaublich teuer“, sagte Williams. „Warum geben wir den Menschen nicht einfach das Geld, das sie brauchen, um ihr Leben zu verändern?“
Das Leben des 55-jährigen Kanadiers Ray änderte sich grundlegend
Auf die Projektidee kam Williams als sie zum ersten Mal den TED-Talk „Warum wir allen ein bedingungsloses Grundeinkommen geben sollten“ des Historikers Rutger Bregman von 2014 gesehen hat. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens – die Regierung zahlt jedem Bürger ohne Bedingungen eine monatliche Geldsumme – hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen. Weltweit laufen in mehreren Ländern Pilotprogramme.
Williams und ihre Mitarbeiter entschieden sich für ihr Projekt jedoch, den Bedürftigen anstatt der monatlichen Zahlungen eine einmalige Pauschale zu geben. „Die Forschung zeigt, dass wenn man den Menschen im Voraus eine größere Summe Geld gibt, dies langfristiges Denken auslöst“, so Williams, anstatt die Menschen nur im Überlebensmodus zu halten. „Man denkt nicht darüber nach, sich für einen Workshop anzumelden, wenn man nicht weiß, wie man das Essen für den nächsten Tag bezahlen soll. Die große Pauschale am Anfang gibt den Leuten viel mehr Entscheidungsfreiheit.“
Für Ray hat das Projekt die Wende gebracht. Er fand in dem Jahr nicht nur eine Wohnung, sondern nutzte das Geld für eine Ausbildung als Sozialarbeiter, um Menschen mit Suchtproblemen zu helfen. „Jetzt kann ich selbst in jedem der Notunterkünfte und Gemeindezentren in der Gegend arbeiten“, sagte er Vox. Die Direktzahlung habe sich für ihn wie ein Vertrauensvotum angefühlt. „Dass ihnen vertraut wurde, gibt den Leuten wieder ein Selbstwertgefühl.“
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst an dieser Stelle bei stern.de.
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