Staatsballett: ‚Der Schneesturm‘ im Nationaltheater – jede Geste zählt

Bloß nicht die Schneekugel schütteln! Es ist ein scheinbar harmloses Requisit, das Choreograf Andrey Kaydanovskiy zum tückischen Begleiter in Marjas Leben macht.

Darin steht ein kleines, fensterloses Holzhaus – die Miniatur dessen, was sich als mobile Kulissenwand und in gestaffelten Umrissen in Groß auch im Bühnenbild Karoline Hogls wiederfindet. Symbolkräftig für ein Spiel gegen die Fügungen des Schicksals, bei dem die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt allzu leicht verschwimmen.

Ksenia Ryzhkova: darstellerisch wie tänzerisch fantastisch

Das in einem überbehüteten Familienpseudoidyll feststeckende junge Mädchen – die darstellerisch wie tänzerisch fantastische Ksenia Ryzhkova – ist eine von vier Hauptfiguren. Ausgestattet mit überaus starken choreografischen Profilen treiben diese eine tragikomische, in Zügen märchenhafte Geschichte voran. Zugleich wird holzschnittartig-zeitlos von der Brüchigkeit des Glücks erzählt, von dessen permanentem Gefährdetsein.

Originell und unkompliziert

Das ist Kaydanovskiy bei „Der Schneesturm“ nach der gleichnamigen Novelle von Alexander Puschkin in offensichtlich enger Zusammenarbeit mit seinem Produktionsteam auf originelle und recht unkompliziert-findige Weise gelungen, trotz schwieriger Pandemieauflagen. Erstaunlich präzise und dennoch herrlich eigenwillig folgen die 16 Bilder des Zweiakters der Vorlage.

Lorenz Dangels Auftragskomposition überzeugt durch Stimmigkeit

Wie das Ordnungsgefüge um Marja herum in Bewegung gerät, welche emotionalen Schieflagen der quasi aus dem Nichts immer wieder einfallende Blizzard für die Charaktere parat hält, kapiert man ohnehin dank einer aufs Engste ineinander verschränkten Szenenstruktur.

Das mächtig Illustrative von Lorenz Dangels Auftragskomposition könnte man durchaus ankreiden, würde sich seine Musik mit ihren subtilen leitmotivischen Passagen, zahlreichen Zitaten – sie zersprengen jeden einheitlichen Stilbogen -, romantisch-überdrehten oder elektronisch durchwühlten Klangebenen nicht derart stimmig an das Bühnengeschehen schmiegen.

Flucht aus der konventionsverkapselten Enge

Da posieren zu klar barocken Klängen, Richtung Zuschauerraum starrend, Vater (Matteo Dilaghi), Mutter (Séverine Ferrolier) und Tochter. Für das von Zofe (Elvina Ibraimova) und Knecht (Robin Strona) flankierte Porträt – ohne Fotograf weit und breit. Ein Bild von Wohlstand und Harmonie, das vor unseren Augen brüsk zur Karikatur mutiert. Knapper geht ein vielsagender Einstieg kaum.

Papa hustet und kippelt auf seinem Stuhl herum. Statt zueinander zeigen die elterlichen Knie plötzlich voneinander weg. Das Personal greift beherzt-helfend ein, auch bei Marja, deren Armen die wuchtige Schneekugel zu entgleiten droht. Gelangweilt steht sie in der Mitte, bereit, der konventionsverkapselten, glasverkuppelten Enge zu entfliehen.

Beeindruckend dichtes Pas de deux

Bevor Marja ihren Herzbuben Vladimir trifft, um in einem beeindruckend dichten Pas de deux das gemeinsame Durchbrennen zu verabreden, rauscht in den pompös-bunten Kostümen von Arthur Arbesser erst noch ein Ballvergnügen bestens aufgelegter Paare an ihr vorbei. Nur Jonah Cook alias Vladimir vermag ihr Gemüt aufzuhellen. Fanatisch alternativlose Liebe ist hier die treibende Kraft.

Für Vladimir wird sie zum Verhängnis. Er scheitert in einem furiosen Schneeorkan. Um die Orientierung gebracht und bis zur Erschöpfung durchgebeutelt von sechs Schneetänzern ganz in weiß. Dazu werden alle Theaterregister gezogen. Die Musik tobt, Flocken wirbeln wild, im Hintergrund taucht gespenstisch und schräg die Trauungskirche auf.

Ein offener Schluss folgt auf das Happy End

Nach der Pause sind vier Jahre vergangen und ein Krieg überwunden. Inmitten des fröhlichen Festtreibens lässt Kaydanovskiy seine Marja mit dem feschen Burmin zusammenprallen. Wie schon im Pas de deux mit Vladimir ist jede Geste, jedes Umfassen des Paares aussagekräftig und Jinhao Zhang als Burmin stets drauf bedacht, den Ring an seiner Hand zu verbergen.

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Man ahnt, was sich in der stürmischen Nacht zugetragen hat. Kaydanovskiy enthält es dem Publikum nicht vor. Auslöser für die erklärende Rückblende ist eine Ohrfeige. Auf Puschkins Happy End setzt der Choreograf noch einen zweiten offenen Schluss drauf. Ein genialer Kunstgriff, der ans Ende des Films „Basic Instinct“ erinnert und über die Einführung einer zusätzlichen Figur funktioniert.

Paraderolle für Belkin

Für Osiel Gouneo ist Belkin eine Paraderolle. Den Traumatisierten an Burmins Seite interpretiert er fabelhaft teuflisch und darf sogar eine kriegsknacksirre Show abziehen. Kaum hat das Liebespaar zueinander gefunden, da wird Burmin von Belkin unter einem Vorwand aus der Tür gelockt. Jetzt heißt es für Marja: Bloß nicht die Schneekugel schütteln!

Ab 23. April 30 Tage als Video-on-Demand für 9.90 Euro auf www.staatsoper.tv

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