Gorbatschow wird 90: Ein Interview mit dem Historiker Ignaz Lozo

Glasnost und Perestroika – diese Begriffe kennt jeder, der heute über 50 Jahre ist und das Ende des Kalten Krieges erlebt hat: Michail Gorbatschow, der selbst die Deutsche Einheit als eine seiner wichtigsten Taten bezeichnet hat, gilt als einer der größten Reformer des 20. Jahrhunderts. Für sein Engagement erhielt er 1990 den Friedensnobelpreis. Doch wie und wer ist dieser große Politiker, der jetzt 90 Jahre wird? Der Historiker Ignaz Lozo beschäftigt sich seit den 80er Jahren mit Russland und Gorbatschow, den er auch viele Male persönlich getroffen hat. Auch diese Erfahrungen flossen in eine neue Biografie.

von Detlef Gottwald

AZ: Herr Lozo, Michail Gorbatschow war Partei- und Regierungschef der Sowjetunion, wurde durch einen Putsch abgesetzt und erhielt 1996 als demokratischer Präsidentschaftsbewerber nur noch rund ein Prozent der Wählerstimmen: Ist Gorbatschow historisch nicht eine tragische Figur?
IGNAZ LOZO: Das sehen viele so, er selbst übrigens nicht. In seiner Amtszeit wurde der Weltfrieden spürbar sicherer, fiel der Eiserne Vorhang, bekamen viele Völker ihre Freiheit. Das sieht nicht nur er nicht als Scheitern. Und auch die eigene Bevölkerung bekam Reisefreiheit und Religionsfreiheit. Und er hat seinen Bürgern, nach Jahrzehnten in einem repressiven System, die Angst genommen.

Gorbatschow fehlte der wirtschaftliche Erfolg

Das wurde ihm aber nicht gedankt. Was waren die Gründe für das desolate Ergebnis bei der freien Präsidentenwahl 1996?
Er hatte wirtschaftlich keinen Erfolg, das flog ihm um die Ohren. Aber da muss man sagen: Er hatte das Pech, dass in seiner Amtszeit der Ölpreis in den Keller gerauscht ist, was zu einer extrem harten finanziellen Situation geführt hat, ohne Devisenreserven und damit Importmöglichkeiten. Putin hatte dann das Glück, dass diese Einnahmequelle wieder sprudelte. Wäre Gorbatschow auch noch wirtschaftlich erfolgreich gewesen, wäre er heute der beliebteste russische Politiker des 20. Jahrhunderts. Aber natürlich wurden die ohnehin schlechte Versorgungslage und das Schlangestehen in der Gorbatschow-Zeit noch schlimmer. Denn der maroden und korrupten Planwirtschaft war mit teilweise marktwirtschaftlichen Belebungsversuchen, die sich Berater ausdachten, die mit Marktwirtschaft ja auch keine Erfahrung hatten, nicht auf die Sprünge zu helfen. Aber ich glaube, dass mit noch größerem Abstand die Russen Gorbatschow den ihm gebührenden Platz in ihrer Geschichte einräumen werden. Und von der Präsidentschaftskandidatur 1996 hatte ihm seine Frau Raissa abgeraten, was auch zeigt, dass er kein Pantoffelheld war. Er hatte schon gehofft, dass man ihm dankbarer sein müsste. Aber die wirtschaftliche Situation war katastrophal. Und alles, was auch unter Jelzin schief ging, schob man ihm in die Schuhe – so nach dem Motto: Mit Gorbatschow hat der Schlamassel erst so richtig angefangen.

Das Wettrüsten  betrachtete er als sinnlos

Gorbatschow hat als Jahrgang 1931 noch die stalinistische Ära, dann die Tauwetterperiode unter Chruschtschow mitgemacht, dann wieder die restaurative Phase…. Wie kam es zu seinem Umdenken Richtung Glasnost und Perestroika: Transparenz und Umbau des sowjetischen Systems?
Gorbatschow begrüßte die Neuerungen unter Chruschtschow, aber er blieb ein treuer Anhänger des Sowjetsystems bis in die frühen 80er Jahre, als er das jüngste Mitglied im Politbüro wurde. Zweifel waren ihm aber schon bei seinen ersten Westreisen gekommen, die er als höherer Funktionär machen durfte – nach Italien 1971, dann später Belgien, die Bundesrepublik und Frankreich. Hier sah er, dass eben vieles besser funktionierte als zu Hause und dass die Sowjetpropaganda so ganz nicht stimmen konnte. Als er dann 1985 Kremlchef wurde, begann er aus Eigeninitiative mit Veränderungen, an denen er die Sowjetbürger auch beteiligen wollte. Und außenpolitisch sah er das Wettrüsten strategisch als sinnlos und wirtschaftlich als ruinös an.

Dann hatte der amerikanische Präsident Ronald Reagan ja recht, mit seiner wahnsinnig gefährlichen Idee, „die Sowjetunion zu Tode zu rüsten“.
Diese US-Idee vom „zu Tode Rüsten“ bestreitet Gorbatschow. Ich habe ihn dazu auch selbst schon befragt. Die UdSSR hatte zuvor begonnen SS-20 Raketen in Mitteleuropa zu stationieren, was auf westlicher Seite zum NATO-Doppelbeschluss – also Aufrüsten, aber auch verhandeln – also zur Aufstellung von Pershing 2 US-Raketen führte. Dazu sagte Gorbatschow: Ich selbst habe diese Spirale als völlig sinnlos erkannt. Dazu brauchte es gar nicht einer weiteren US-Drohung.

Waren Ronald Reagan und Gorbatschow befreundet?

Wie wurde aus der Gegnerschaft von Ronald Reagan und Gorbatschow eine politische Partnerschaft?
Ich würde sogar fast Freundschaft sagen. Schon 1985, Gorbatschow war erst ganz kurz an der Macht, hatten die beiden etwas Unerhörtes vereinbart: Jeweils eine Fernseh-Neujahrsansprache des einen im Land des anderen – unzensiert! Und die Sowjetbürger trauten ihren Ohren nicht, als der verteufelte Ronald Reagan von Rede-, Meinungs- und Versammlungs- und Religionsfreiheit sprach.

Dann machten die beiden ja auch so genannte Fernsehbrücken aus: US-Bürger konnten Sowjetbürgern Fragen stellen und umgekehrt.
Eine Sendung ist in Russland bis heute unvergessen. Eine Amerikanerin beklagte sich, dass in der Werbung in den USA immer so viel mit Sex gearbeitet würde. Sie fragte: Ist das bei Ihnen auch so? Weil aber dieses Wort in der Sowjetunion öffentlich ein absolutes Tabu war, antwortete die sowjetische Frau: „In der Sowjetunion gibt es keinen Sex! Und wir sind auch strikt gegen ihn.“ Und erntet natürlich schallendes Gelächter. Aber in so einer durch Gorbatschow gelockerten Atmosphäre haben 1987 dann er und Reagan im INF-Vertrag dann auch den Rückzug und die Vernichtung der Mittelstreckenraketen beschlossen, was bis 1991 auch erfüllt wurde. Dass jetzt wieder vieles ins Wanken kommt, ist eine andere Geschichte.

Eine Frage der Kommunikation

Warum hat Gorbatschow als guter Kommunikator, den Helmut Kohl ja einmal unpassenderweise mit Goebbels verglichen hat, gleichzeitig so wenig Gespür für sein eigenes Land und seine eigenen Leute? Stichwort: Antialkoholkampagne bis hin zum Umhacken von Rebstöcken…
Ich sehe das gar nicht so. Schon der letzte Zar Nikolaus hatte es 1914 mit Prohibition versucht, Lenin hat den Kampf fortgesetzt und unter Stalin bis Leonid Breschnew gab es immer wieder Ansätze. Aber Gorbatschow hat das dann wirklich flächendeckend angepackt – wohl wissend, dass er sich bei vielen unbeliebt machen würde. Aber: Die Frauen waren so erleichtert, dass da endlich mal jemand den Männern die Flaschen wegnimmt. Die Kinder, die ganzen Familien, die unter dem Alkoholismus gelitten haben, waren dafür!

Wenn man auf Gorbatschow blickt, weiß man nicht: Hat man einen Kommunisten, einen Sozialisten oder einen demokratischen Sozialisten vor sich?
Er war alles drei und noch viel mehr, denn in seiner Jugend war er überzeugter Stalinist und am Ende hat er die Planwirtschaftsbehörde aufgelöst. Sein unglaublicher Wandlungsprozess zeigt ja seine Intelligenz, wenn man bedenkt, aus welchem System er kam. Das alles führte ihn dazu, dass er sich selbst 2019 als Sozialdemokrat bezeichnet hat. Ich selbst habe ihn als pragmatisch erlebt, aber als einen Humanisten, der immer dafür eintrat, dass der Mensch vom Staat nicht alleine gelassen wird. Er war ein Gewaltgegner, aber er konnte auch nicht die Zentrifugalkräfte gewähren und die UdSSR ins Chaos stürzen lassen, deren Partei- und Regierungschef er ja war. So hat er im Januar 1990 in Aserbaidschan und Baku einen Unabhängigkeitsaufstand militärisch niederschlagen lassen, aber auch, um die armenische Minderheit vor Pogromen zu schützen.

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Warum ist der Putsch 1991 gegen ihn für ihn so kläglich ausgegangen?
Es war August, Gorbatschow war auf der Krim mit seiner Familie im Urlaub. Der KGB hat ihm alle Telefonleitungen gekappt und ihn unter Hausarrest gestellt. Er war handlungsunfähig, als sich dann nach drei Tagen der damalige Präsident der russischen Sowjetrepublik Jelzin gegen die Putschisten durchsetzte. Und wenige Monate später hat Boris Jelzin dann mit den anderen Republikführern die Sowjetunion aufgelöst.

Der 90. Geburtstag fällt wegen Corona aus

Wissen Sie, wie Gorbatschow seinen 90. Geburtstag am Dienstag feiern wird?
Er ist betrübt, dass er ihn wegen Corona gar nicht feiern kann. Er will das aber im Sommer nachholen und hofft, dass er bis dahin noch lebt. Ich bin dankenswerterweise auch eingeladen.

Geht es ihm so schlecht?
Er hat ja viele Krankheiten, nicht nur Diabetes, und wurde schon oft operiert – auch in München. Aber wenn er im Sommer feiert, gehe ich mit Freude hin.

Ignaz Lozo: „Gorbatschow – Der Weltveränderer“ (wgb Theiss, 420 Seiten, 28 Euro), Infos: www.ignaz-lozo.de

Der 58-jährige Historiker, Redakteur und Übersetzer für Englisch und Russisch arbeitete 15 Jahre für die ZDF-Nachrichten, auch im Studio München. 2007 kehrte er nach Mainz zurück als Autor von Dokumentationen. 

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