Die Wahrheit einer unglaublichen Unordnung – Mirna Funks neuer Roman

Wenn sich Menschen mit jüdischen Vorfahren mit ihrer Familienbiografie beschäftigen, bedeutet das auch heute noch oft eine schmerzhafte Personalisierung der kollektiven Tragödie des Holocaust. Das ist eines der großen Themen in Mirna Funks neuem Roman „Zwischen Du und Ich“. Die jüdisch-stämmige Protagonistin Nike nimmt aus einer persönlichen Krise heraus ein Jobangebot in Tel Aviv an und beginnt, sich mit der Vergangenheit ihrer Familie zu beschäftigen.

Der Roman startet in Berlin

Am Anfang des Romans lebt die junge Frau in Berlin und arbeitet für den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Ihrer schrullig-neurotischen Großmutter, die sich ebenso sehr als Kommunistin wie als Jüdin versteht, fühlt sie sich in aufreibender Hassliebe verbunden, während sie zu ihren Eltern ein distanziertes Verhältnis hat. Eine Jahre zurückliegende Gewalterfahrung mit ihrem Ex-Freund hat sie so traumatisiert, dass sie noch immer davor zurückscheut, eine neue Bindung einzugehen.

Mirna Funk zeichnet in „Zwischen Du und Ich“ wie schon in ihrem Debütroman „Winternähe“, der 2015 für den Aspekte-Literaturpreis nominiert war und mit dem Uwe-Johnson-Preis der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft ausgezeichnet wurde, das überzeugende Porträt einer entwurzelten, kosmopolitisch orientierten und ewig jugendlichen Generation. Familiäre Stabilität gibt es kaum, dafür akademische Bildung, internationale Vernetzung und freundschaftliche Loyalität.

Eine Liebesgeschichte zwischen zwei verwundeten Seelen

In Tel Aviv lernt Nike den Journalisten Noam kennen. Die beiden sind fast vom ersten Tag an ein Paar. Auch Noam trägt tiefe Verletzungen in sich: Nach dem Tod s eines Vaters wurde er als Kind auch noch von der Mutter verlassen und von einem impulsiven, wenig verlässlichen Onkel großgezogen. Immer wieder hat er Gewalt und Missbrauch erlebt. Mirna Funk lässt zwischen diesen zwei verwundeten Seelen eine Liebesgeschichte entstehen, die beiden zunächst Ruhe und Frieden gibt. Bald wird jedoch deutlich, dass die Anziehung zwischen ihnen niemals ausreichen kann, um ihre tief sitzenden Lebenstraumata zu heilen. Und doch ermöglicht die Konfrontation mit Noam Nike einen neuen Zugang zu ihrer paralysierenden Erfahrung mit ihrem Exfreund.

Moderne Kämpfe mit historischem Trauma verwoben

Gleichzeitig bewirkt die Einsicht in die Akte ihrer Urgroßmutter in der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die Nike zunächst völlig verstört, am Ende ebenfalls einen selbstbewussteren Umgang mit der eigenen Missbrauchserfahrung. Wie schon in ihrem Debütroman „Winternähe“ verwebt Mirna Funk in ihrem aktuellen Buch die Themen und Kämpfe einer modernen, kosmopolitischen Generation völlig organisch mit den Traumata ihrer jüdischen Großeltern und Urgroßeltern. Auch wenn ihre Religionszugehörigkeit für Nike zunächst keine große Rolle zu spielen scheint, so ist die Erfahrung des Holocaust doch tief in ihre Familiengeschichte eingeschrieben. Nikes Leben hätte höchstwahrscheinlich eine andere Entwicklung genommen, wenn diese Geschichte anders verlaufen wäre.

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Anders als in „Winternähe“, wo die jüdisch-stämmige Protagonistin öffentlich diskreditiert wird und in der Folge mit aufgemaltem Hitlerbart vor Gericht zieht, findet die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Trauma in „Zwischen Du und Ich“ auf leisere und subtilere Weise statt. Die Aussöhnung mit ihrer eigenen Geschichte erreicht Nike zum einen über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihrer Urgroßmutter und zum anderen auch durch die bedingungslose Unterstützung und Solidarität, die sie durch Freundinnen und andere Frauen aus ihrem Umfeld erfährt.

Mirna Funk lässt ihre Protagonistin am Ende einen gewissen Frieden finden mit ihrer eigenen Geschichte und mit der aufwühlenden Biografie ihrer Familie: „Ich begann zu verstehen, dass diese unglaubliche Unordnung der Wahrheit näherkam als die geordnete Gelassenheit, der ich mich für eine viel zu lange Zeit wie blind verschrieben hatte.“ Ein lesenswerter Roman, der seinen vielen schweren Themen auf leichte und sprachlich zugängliche Art und Weise begegnet. 

Mirna Funk: „Zwischen Du und Ich“ (dtv, 304 Seiten, 22 Euro, als E-Book 16,99 Euro)

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